Photo: ClemRutter from Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0) In so turbulenten Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, braucht man zum Navigieren unbedingt einen Kompass. Je dichter der Nebel und je unruhiger die See, umso wichtiger ist es, Kurs zu halten. Sieben Anregungen aus sieben Jahrzehnten Bundesrepublik. Leider ist im Augenblick jede einzelne dieser Selbstverständlichkeiten unter Beschuss. Ordnungspolitik: Regeln gegen Willkür Ludwig Erhard, Walter Eucken, Franz Böhm – diese Namen stehen für ein fundamentales Prinzip, das unser Land und zumindest in Teilen auch die Europäische Union geprägt hat – mit durchschlagendem Erfolg. Diese Väter unseres Wirtschaftsmodells waren abgestoßen von der Kungelei zwischen Staat und Unternehmen in den 20er Jahren. Und sie ließen sich nicht überzeugen von
Topics:
Clemens Schneider considers the following as important: blog
This could be interesting, too:
Clemens Schneider writes Kurt Zube
Clemens Schneider writes Substack-Empfehlung: Zeitsprung
Clemens Schneider writes VW in Potemkin-Land
Clemens Schneider writes Gunther Schnabl wird Nachfolger von Thomas Mayer
Photo: ClemRutter from Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)
In so turbulenten Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, braucht man zum Navigieren unbedingt einen Kompass. Je dichter der Nebel und je unruhiger die See, umso wichtiger ist es, Kurs zu halten. Sieben Anregungen aus sieben Jahrzehnten Bundesrepublik. Leider ist im Augenblick jede einzelne dieser Selbstverständlichkeiten unter Beschuss.
Ordnungspolitik: Regeln gegen Willkür
Ludwig Erhard, Walter Eucken, Franz Böhm – diese Namen stehen für ein fundamentales Prinzip, das unser Land und zumindest in Teilen auch die Europäische Union geprägt hat – mit durchschlagendem Erfolg. Diese Väter unseres Wirtschaftsmodells waren abgestoßen von der Kungelei zwischen Staat und Unternehmen in den 20er Jahren. Und sie ließen sich nicht überzeugen von den interventionistischen Konzepten des New Deal oder der Kriegswirtschaft, die in vielen Ländern Europas noch ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende die Politik bestimmte. Ihr Anspruch: Der Markt muss um jeden Preis geschützt werden vor der lenkenden Hand der Politik. Nicht nur, weil diese allzu schnell zum Büttel von Sonderinteressen wird, sondern auch, weil ihr schlichtweg der Überblick fehlt.
Subsidiarität: Loslassen und vertrauen
Auch wenn viele sich eher wehren, wenn man ihnen zu deutlich sagt, was sie zu tun und wo sie sich hin zu bewegen hätten: sobald es um andere geht, wissen viele sehr genau, was für diese das Beste wäre. Wir vertrauen unserer eigenen Einsicht und Güte sehr viel mehr als der anderer Menschen. Dem Prinzip der Subsidiarität liegt die Erkenntnis zugrunde, dass dieser Eindruck ganz oft täuscht. Darum fordert das Subsidiaritätsprinzip für den Einzelnen und die jeweils kleinere Einheit einen Vertrauensvorschuss. Denn der Landesminister und erst recht die Bürgermeisterin haben in der Regel ein sehr viel tieferes Verständnis für die Umstände und Erfordernisse vor Ort.
Exportnation: Wohlstand für alle, wirklich alle!
„Made in Germany“, einst der Versuch, deutsche Produkte zu diskreditieren, ist inzwischen eines der beliebtesten Gütesiegel überhaupt. Dabei bedeutet das aber nicht nur, dass die Fabriken in Lippstadt und Suhl Güter produzieren, die wohl in fast jedem Land der Welt auf der Straße herumfahren oder die Abflussrohre abdichten. Das bedeutet auch, dass wir von der steigenden Nachfrage aus einer immer wohlhabenderen Welt profitieren. Es bedeutet, dass unsere Handelspartner in Kolumbien besser produzieren können, weil sie unsere Technik kaufen, und wir wiederum günstige Schals aus Bucaramanga beziehen. Keine Idee, kein Konzept, keine Institution hat in der Geschichte der Menschheit so viele Gewinner hervorgebracht wie die Globalisierung. Deutschland ist da nicht nur Profiteur, sondern hat es unzähligen Menschen ermöglicht, ihrerseits zu profitieren.
Westbindung: Ein Freund, ein guter Freund
Es gibt viele Gründe dafür, in den USA den engsten Freund der Bundesrepublik zu sehen: vom Schutz im Rahmen der NATO über die Unterstützung der deutschen Einheit bis hin zu den unzähligen kulturellen Bindungen. Die klassische deutsche Russland-Romantik ebenso wie das Schielen auf vermeintliche Erfolge Chinas in den letzten Jahren haben sich zum Glück bisher nicht durchsetzen können. Das politische Personal in den Vereinigten Staaten bereitet uns derzeit viel Kopfzerbrechen. Aber das Land ist eben auch unser wichtigster Handelspartner; unser stärkster Verbündeter; der Lieferant unserer Träume durch Hollywood und Netflix; und übrigens das Land mit der relativ größten deutschstämmigen Bevölkerung weltweit. Deutschland und Europa sollten gerade wegen des derzeitigen Präsidenten und der welterschütternden Krise die Liedzeilen beherzigen: „Ein Freund bleibt immer dir Freund, und wenn auch die ganze, die schlechte, die wacklige, die alberne Welt vor den Augen zusammenfällt.“
Mittelstand: Aus den Sonntagsreden ins Alltagstun
In siebzig Jahren ist das Wort Mittelstand im Bundestag rund 10.000 Mal gefallen. Doch in einem politischen Umfeld, in dem dann doch die 13.000 Arbeitsplätze des Großkonzerns mehr ins Gewicht fallen, haben die zweieinhalb Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, bei denen 61 Prozent der deutschen Arbeitnehmer beschäftigt sind, wirklich Schwierigkeiten, über Sonntagsreden hinaus Gehör zu finden. Wunderbar zusammengefasst hat die Situation kürzlich in einem Interview der FAZ ein Grafikdesigner aus Frankfurt: „Gerade wir Selbstständige waren es doch, die dem Staat bislang so gut wie nie auf der Tasche gelegen haben. Wir haben uns immer irgendwie durchgebissen, nie Schulden gemacht und nun fliegt uns unverschuldet diese Krise um die Ohren.“ Diese Haltung hat den Mittestand zum fast unzerstörbaren Rückgrat der heimischen Wirtschaft gemacht vom Wiederaufbau über die Wiedervereinigung bis zur Eurokrise. Wie jedes Rückgrat braucht aber auch der Mittelstand dringend Aufmerksamkeit, Schonung, Beweglichkeit und Substanz.
Diskurs: Basta und alternativlos sind respektlos und dumm
Man vergisst bisweilen, dass der längste Teil der Geschichte unserer Republik von den 68ern geprägt ist. Die vielleicht wichtigste Errungenschaft dieser Zeit ist die fast schon banale (wenn auch von Habermas und Co. blumig ausgewalzte), aber leider nicht selbstverständliche Aufforderung, die Meinungen anderer Menschen anzuhören und gelten zu lassen. Das ist schwerer als es sich anhört. Manchmal sehnen wir uns nach dem Basta, weil wir glauben, die richtige Lösung schon zu haben. Und manchmal gelingt uns auch nicht, was Friedrich August von Hayek schon 1945 als Kardinaltugend der Liberalen formulierte, nämlich dass „sie rückhaltlos anerkennen sollten, dass normalerweise weder böse Absichten noch egoistische Interessen, sondern ehrliche Überzeugungen und idealistisches Bestreben“ die Gegner motivieren. Es ist ein unschätzbarer Wert, dass sich in unserem Land durchaus vernehmbarer Widerspruch rührt, wenn Basta gerufen wird oder etwas als alternativlos erklärt wird. Nicht nur sind solche Attitüden Zeichen mangelnden Respekts, sie verhindern auch einen pluralen und offenen Diskurs, der immer noch das beste Mittel zur Lösungsfindung ist.
Zivilgesellschaft: Der Primat des Bürgers vor der Politik
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, schrieb der im letzten Jahr verstorbene Ernst-Wolfgang Böckenförde unserem Staat 1964 ins Stammbuch. Das tat Not in einem Land, das lange geprägt wurde von Hegels Diktum: „es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist“. Die Liebe zur Obrigkeit und der leidenschaftliche Untertanengeist ist natürlich in Deutschland noch lange nicht ausgerottet worden. Aber eine der erstaunlichsten Entwicklungen ist doch, dass wir in den letzten Jahrzehnten den Wert der Zivilgesellschaft wieder besser verstanden und auch verwirklicht haben. Es wird noch lange dauern, ehe die freudige Überraschung darüber, dass man etwas auch ganz eigenständig hinbekommen kann, noch in der Breite durch eine prinzipielle Skepsis gegenüber dem Staat und der Politik ergänzt wird. Aber das wachsende Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten und die der Mitbürgerin ist vielleicht die größte Errungenschaft in der Geschichte der Bundesrepublik.
Die nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, werden global und in unserem Land aller Voraussicht nach mit vielen Herausforderungen verbunden sein. Deshalb geht auch jetzt der Diskurs los, welcher Kompass den Kurs bestimmen wird, von welchen Werten und Prinzipien wir uns leiten lassen. Die offene und freie Gesellschaft muss jetzt wieder mit voller Kraft verteidigt werden gegen die Gegner rechts und links; gegen einen mit ganz neuem Sendungs- und Selbstbewusstsein ausgestatteten Staat. Das sind raue Winde und gewaltige Strömungen. Aber die Freunde der Freiheit sollten sich nicht Bange machen lassen. Am Ende sind wir doch sehr gut gerüstet, haben einen langen Atem und insbesondere den überzeugendsten Kompass. Den müssen wir jetzt nur noch anderen Menschen schmackhaft machen …