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Markträumende Einkommen gesucht, notfalls per Helikoptergeld

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Die Löhne in Deutschland erlauben vielen Menschen nur einen sehr bescheidenen Konsum. Dieser Beitrag sieht darin ein Versagen der Gewerkschaften. Deshalb sollen jetzt die Notenbanken für die nötige Nachfrage sorgen – und zwar mit Helikoptergeld. Regulieren oder deregulieren? Am Arbeitsmarkt scheiden sich die Geister. Die Deregulierer glauben, dass man Vollbeschäftigung nur mit dem Abbau aller Markthindernisse wie Mindestlöhne, zentrale Lohnverhandlungen usw. erreichen kann. Deutschland hat es versucht. Mit dem Ergebnis, dass heute rund ein Viertel der Arbeitsbevölkerung von einem Einkommen leben muss, das knapp das Überleben sichert. Für alle Extras, wie Altersvorsorge, Krankheit oder Arbeitslosigkeit muss der Staat aufkommen. Deshalb treten inzwischen sogar hart gesottene IWF-Ökonomen dafür ein, den (japanischen) Arbeitsmarkt zu regulieren. In ihrem Paper fordern Luc Everaert und Giovanni Ganelli, dass profitable Unternehmen die Löhne jedes Jahr um mindestens 2 Prozent plus nationale Rate der Produktivitätssteigerung erhöhen. Oder sie müssen erklären, warum sie das nicht tun und ihre Lohnpolitik offenlegen. Zweitens soll die Regierung Lohnerhöhungen steuerlich begünstigen. Und drittens soll sie mit Lohnerhöhungen vorangehen. Vollbeschäftigung setzt voraus, dass der Markt im Zug der Produktion auch die Einkommen schafft, mit denen das BIP konsumiert werden kann.

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Die Löhne in Deutschland erlauben vielen Menschen nur einen sehr bescheidenen Konsum. Dieser Beitrag sieht darin ein Versagen der Gewerkschaften. Deshalb sollen jetzt die Notenbanken für die nötige Nachfrage sorgen – und zwar mit Helikoptergeld.

Regulieren oder deregulieren? Am Arbeitsmarkt scheiden sich die Geister. Die Deregulierer glauben, dass man Vollbeschäftigung nur mit dem Abbau aller Markthindernisse wie Mindestlöhne, zentrale Lohnverhandlungen usw. erreichen kann. Deutschland hat es versucht. Mit dem Ergebnis, dass heute rund ein Viertel der Arbeitsbevölkerung von einem Einkommen leben muss, das knapp das Überleben sichert. Für alle Extras, wie Altersvorsorge, Krankheit oder Arbeitslosigkeit muss der Staat aufkommen.

Deshalb treten inzwischen sogar hart gesottene IWF-Ökonomen dafür ein, den (japanischen) Arbeitsmarkt zu regulieren. In ihrem Paper fordern Luc Everaert und Giovanni Ganelli, dass profitable Unternehmen die Löhne jedes Jahr um mindestens 2 Prozent plus nationale Rate der Produktivitätssteigerung erhöhen. Oder sie müssen erklären, warum sie das nicht tun und ihre Lohnpolitik offenlegen. Zweitens soll die Regierung Lohnerhöhungen steuerlich begünstigen. Und drittens soll sie mit Lohnerhöhungen vorangehen.

Vollbeschäftigung setzt voraus, dass der Markt im Zug der Produktion auch die Einkommen schafft, mit denen das BIP konsumiert werden kann. Der Versuch, die Nachfragelücke mit Exportüberschüssen zu füllen ist gescheitert. Selbst für Exportweltmeister Deutschland geht die Rechnung nicht auf. Jetzt versuchen der Staat und die Zentralbanken die Nachfragelücke zu schliessen. Sie saugen die Überschüsse auf und pumpen sie in die Wirtschaft zurück. Unter dem Strich wird so der Lebensunterhalt der Arbeitslosen, der Kranken und der Unterschicht per Kredit finanziert.

Doch spätestens in den letzten Jahren ist klar geworden, dass dieser “Transmissionsmechanismus der Geldpolitik” die Wirtschaft zwar stabilisieren, aber nicht ankurbeln kann. Der Grund ist offensichtlich: Anders als eine vernünftige Lohnpolitik” kann das Tandem Staat/Zentralbank nur minimale Einkommen sichern. In Deutschland etwa auf dem Niveau von Hartz-4. Doch die so geschaffenen Einkommen sind weit davon entfernt, markträumend zu sein und für Vollbeschäftigung zu sorgen: Hartz-4 Empfänger können sich kaum ein Fahrrad und eine geheizte Unterkunft leisten, geschweige denn ein Auto, Ferien oder eine Schönheitsoperation. Doch das sind genau die Dinge, die eine Wirtschaft braucht, die ihre Produktivität seit dem “Wirtschaftswunder” der Sechzigerjahre mehr als verdreifacht hat.

In einer Marktgesellschaft haben die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie eine wichtige Funktion: Sie müssen nicht nur existenz-, sondern auch systemsichernde Löhne und Einkommen durchsetzen. Das Ziel ist eine

markträumende Einkommensstruktur. Die Einkommen sollten so hoch sein, dass das ganze Produktionspotential einer Wirtschaft konsumiert und investiert wird, ohne, dass es dazu chronische Exportüberschüsse braucht. Diese Struktur muss von unten her aufgebaut werden: Sozialhilfe, Mindestlohn, Tieflohnsektor.

In unserer hoch produktiven Wirtschaft liegt dieser Sockel sehr hoch. Kein Wunder: In Deutschland ist die Produktivität heute dreimal so hoch wie in den “goldenen” Sechzigerjahren, also wir auch schon nicht darbten. Doch leider haben die Gewerkschaften die Zeichen der Zeit nicht erkannt. So lesen wir etwa in einer Studie der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung vom Frühjahr 2016: “Damit ein Lohn zum Leben reicht, sollte er mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns entsprechen.” Eine Graphik zeigt, dass Deutschlands Mindestlohn nach dieser Logik von 8.50 auf 10.63 Euro steigen müsste.

Diese Zahlen sind realitätsfremd: Wenn ein Paar mit je einem durchschnittlichen Arbeitspensum von 1300 Stunden pro Jahr (mehr gibt der deutsche Arbeitsmarkt nicht her) zwei Kinder grossziehen und mit dem Lohn auch noch die eigene Rente (15 Rentenjahre) finanzieren will, braucht es dazu selbst dann einen Stundenlohn von mindestens 15 Euro, wenn man sich mit einen Leben auf Hartz-4-Niveau begnügen muss. (Details siehe hier).

Wie hoch ein markträumender Mindestlohn sein sollte

Doch ein Mindestlohn von 15 Euro sichert vielleicht das Überleben, genügt aber nicht als Grundlage für eine markträumende Einkommensverteilung. Dafür braucht es mindestens 27 Euro pro Stunde. Diese Schätzung beruht auf folgender Überlegung: Die Einkommen müssen so verteilt sein, dass das bei Vollbeschäftigung mögliche Produktionspotential eines Landes Konsum und Investitionen (aber ohne Exportüberschuss) voll ausgeschöpft wird. In Deutschland betrug dieses Potential 2015 pro Kopf rund 40’000 Euro, wovon rund 24’000 für den Privatkonsum und je 8’000 Franken für Staatskonsum und Investitionen.

Der Privatkonsum ist über die Jahre und Länder hinweg relativ stabil verteilt. Typischerweise konsumiert das ärmste Fünftel etwa 75% und das reichste aber auch nicht mehr als 140 Prozent des Durchschnitts. Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass die Reichen mit ihren Luxuskonsum die Wirtschaft auslasten. Das ärmste Fünftel braucht also schon mal ein Einkommen von 18’000 Euro (75% von 24’000) pro Kopf und Jahr, um seinen fairen Anteil am Privatkonsum leisten zu können.

Vom Lohneinkommen muss aber auch die Rente vorfinanziert werden. Zu diesem Zweck müssen sich auch die armen Haushalte an den Investitionen beteiligen. In unserer Überschlagsrechnung nehmen wir an, dass dieser Anteil voll aus den Kapitaleinkommen finanziert werden kann. Bleibt noch der Finanzierungsanteil an den landesdurchschnittlich 8’000 Euro Staatskonsum. Hier lassen wir die staatliche Umverteilung spielen und belasten dem ärmsten Fünftel nur unterdurchschnittlich 2000 Euro pro Jahr.

Unter dem Strich heisst das, dass das ärmste Fünftel seinen Anteil am markträumenden Konsum nur leisten kann, wenn es pro Kopf über ein jährliches Arbeitseinkommen von 20’000 Euro verfügt. Und dies ein ganzes Leben lang. Mit 45 Arbeitsjahren müssen also im Schnitt noch 35 arbeitsfreie Jahre (wovon 15 Jahre Rente) finanziert werden. Daraus errechnet sich ein notwendiger Jahreslohn von rund 35’000 Euro brutto. Da die durchschnittliche deutsche Erwerbsperson jährlich etwa 1300 Stunden arbeitet, errechnet sich ein Stundenlohn von rund 27 Euro brutto.

Dass diese 27 Euro im Vergleich zur “Errungenschaft” eines Mindestlohns von 8.50 fast grotesk wirken, zeigt bloss unseren Realitätsverlust: Aufgewacht! Wir leben in einer Welt des potentiellen Überflusses! In den Sechzigerjahren war es noch selbstverständlich, dass ein Alleinverdiener Vater mit seinem Lohn eine Familie ernähren konnte. Seither hat sich in Deutschland die Produktivität verdreifacht und die Ehefrauen verdienen mit. Warum also reden wir heute über Mindestlöhne, mit denen man nicht einmal zu zweit eine Familie über die Runde bringen kann?

Das Versagen der Gewerkschaften

Weil die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie versagt haben! Von Unternehmern kann man nicht erwarten, dass sie volkswirtschaftlich denken. Löhne sind für sie Kosten. Punkt. Leider haben die deutschen Gewerkschaften und die SPD diese merkantilistische Optik übernommen. Um die deutsche Exportwirtschaft im Kampf um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, trugen sie erst die Politik der “Lohnmässigung” mit und schufen später bewusst einen “Niedriglohnsektor”. Sie haben die “Lohnkosten” nach Kräften gedrückt.

Mit “Erfolg”: Von 1993 bis 2005 ging der Median der Durchschnittseinkommen real um 11% zurück, während gleichzeitig die Produktivität um 24% gestiegen ist. Ein Irrsinn! Heute gibt es in Deutschland zwar dank jährlich gut 200 Milliarden Euro Exportüberschüssen “nur” noch 6% Arbeitslosigkeit, dafür aber 11% geringfügig Beschäftigte mit monatlich weniger als 400 Euro, weitere 8% verdienen netto bloss 1200 Euro. Damit lebt rund ein Viertel der Arbeitsbevölkerung in etwa auf dem Niveau von Hartz-4 – und fällt als Konsummotor total aus. Entsprechend hinkte Deutschlands Binnennachfrage bis 2009 weit hinter der Resteuropas hinterher. Die entsprechenden Nachfrageeinbussen übertreffen den Gewinn bei den Exporten jährlich um Hunderte Milliarden. Ab 2009 sind die übrigen EU-Länder nun gezwungen, Deutschlands Politik nachzuahmen. Mit den traurigen Ergebnisse, die man kennt.

Doch dieser Misserfolg hat nicht etwa zu einer Renaissance geführt. Im Gegenteil: Deutschlands Niedriglohnsektor ist inzwischen auch für Europas Gewerkschaftsbewegung zum Massstab geworden. Mit dem Ziel eines Mindestlohnes von 60% des (eh stark gesunkenen) Medianeinkommens kann man die Nachfrageschwäche nur noch zementieren. Wie viel mehr es braucht, deutet das Beispiel der Schweiz an. Dank volkswirtschaftlich alphabetisierten Gewerkschaften liegt der durchschnittliche Jahreslohn des ärmsten Fünftels bei immerhin rund 40’000 Franken. Das ist in etwa “unsere” Zielgrösse für Deutschland. Dank einem sozialen Rentensystem liegt auch der Konsum des ärmsten Fünftels der Rentner bei soliden 80 Prozent des Durchschnitts. Dennoch schafft auch das “System Schweiz” viel zu wenig Nachfrage. Das zeigen rund 5% Arbeitslosigkeit und 12 BIP-Prozent Exportüberschuss.

In Europa sind markträumende Löhne ein Tabuthema. Wo bliebe auch die Wettbewerbsfähigkeit?! Deshalb haben wir jetzt diese esoterische Diskussion um den Werkzeugkasten der Geldpolitik. Wird schon heute statt erst morgen konsumiert, wenn wir wieder höhere Inflationsraten haben? Löst der “Reichtumseffekt” steigender Aktien- und Immobilienpreise endlich eine Konsumorgie aus? Schwächen tiefer Eurozinsen den Euro und beflügeln so wenigstens schon mal den Export? Kurbeln negative Zinsen die Investitionen vielleicht doch endlich an?

Helikoptergeld als Lösung für Nachfrageproblem

Die Hoffnungen schwinden. Deshalb beflügelt jetzt ein neues Stichwort die Diskussion: Helikoptergeld. Der bisher substantiellste Beitrag dazu stammt vom Michael Malquarti, Chefökonom des Westschweizer Vermögensverwalters “Syz Asset Management”. Danach soll die Nationalbank “im Rahmen ihres Mandats” jedem Schweizer regelmässig eine “gewisse Geldration” gutschreiben. Interessant ist vor allem die Begründung: “Obwohl unsere Volkswirtschaften unter einer zu geringen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage leiden, findet sich kein Mechanismus, um die Kaufkraft auf breiter Ebene anzuheben.”

Malquarti hat Recht. So wie die Dinge liegen und so wie die aktuelle Diskussion zurzeit (nicht) läuft, kann nur Helikoptergeld das Nachfrageproblem in absehbarer Zeit lösen. Bis die Löhne wieder ein markträumendes Niveau erreichen, dauert es im besten Fall Jahrzehnte. Doch damit dieser Prozess überhaupt in Gang kommt, muss sich die deutsche Sozialdemokratie endlich daran erinnern, dass man einst Nachfrage auch mit Lohntüten-Geld geschaffen hat.

©KOF ETH Zürich, 28. Apr. 2016

Werner Vontobel
Ökonom und Wirtschaftsjournalist