Photo: GovernmentZA from Flickr (CC BY-ND 2.0 DEED) Der Kampf gegen die heute noch präsenten Folgen des Kolonialismus hat seine Berechtigung. Man würde sich allerdings wünschen, dass mit dem noch bestehenden Kolonialismus ebenso hart ins Gericht gegangen würde, auch wenn er nicht von „dem Westen“ ausgeht. Nonchalance im Tropenhelm Was die größeren und kleineren Mächte Europas ebenso wie die USA mit Menschen in anderen Teilen der Welt und mitunter auch vor der eigenen Haustür angestellt haben, kann einem immer wieder einen kalten Schauer den Rücken herunter jagen. Von den europäischen Staaten, die bereits zur Zeit der Kolonialisierung existierten, waren eigentlich nur Polen, Dänemark, Schweden und die Schweiz (weitgehend) unbeteiligt an dem großen Projekt, sich die Welt Untertan zu machen.
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Der Kampf gegen die heute noch präsenten Folgen des Kolonialismus hat seine Berechtigung. Man würde sich allerdings wünschen, dass mit dem noch bestehenden Kolonialismus ebenso hart ins Gericht gegangen würde, auch wenn er nicht von „dem Westen“ ausgeht.
Nonchalance im Tropenhelm
Was die größeren und kleineren Mächte Europas ebenso wie die USA mit Menschen in anderen Teilen der Welt und mitunter auch vor der eigenen Haustür angestellt haben, kann einem immer wieder einen kalten Schauer den Rücken herunter jagen. Von den europäischen Staaten, die bereits zur Zeit der Kolonialisierung existierten, waren eigentlich nur Polen, Dänemark, Schweden und die Schweiz (weitgehend) unbeteiligt an dem großen Projekt, sich die Welt Untertan zu machen. Alle anderen Staaten, deren Herrscher und oft genug auch deren Völker schreckten nicht davor zurück, sich den Besitz anderer Menschen und meist auch sie selbst schlichtweg einzuverleiben. Der Grad an Brutalität und Barbarei war unterschiedlich stark ausgeprägt. Aber die Nonchalance, mit der Millionen von Menschen ihres Eigentums und ihrer auch nur grundlegenden Rechte beraubt wurden, war bei allen gleich – von Belgien bis zum Osmanischen Reich von Ungarn bis Portugal.
An dieser Unbekümmertheit gegenüber dem Schicksal anderer Menschen änderte sich langsam etwas – nicht zuletzt aufgrund der stärkeren Verbreitung von Medien. Waren viele Gräueltaten bei der aktiven Kolonialisierung der „Neuen Welt“ meist nur den Opfern, Tätern, den Anordnenden und einigen Beobachtern gegenwärtig, so tauchte im späten 19. Jahrhundert die Berichte und Bilder der Schlächtereien im Kongo oder in Namibia schon in vielen normalen Haushalten auf. Und auch in kulturelle Bereiche drang das Thema langsam vor. Kolonialismus war irgendwann nicht mehr nur den Opfern schmerzhaft bewusst, sondern es bildete sich Empathie bei den Völkern, die auf der anderen Seite standen. Der Zusammenbruch der großen Kolonialreiche hatte sicherlich viele Faktoren. Aber es war eben auch sehr entscheidend, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerungen der Kolonialmächte aus moralischen Gründen nicht mehr bereit war, das System mitzutragen.
Neue Seidenstraße statt Schutzgebiete
Es kam wie so häufig in der Geschichte der Menschheit: Wenn ein Übel nicht mehr geduldet wird, adaptiert es sich und kommt in anderer Form wieder. Als Fürstenzensur abgeschafft wurde, sprang bürgerliche Etikette ein, die dann jüngst abgelöst wurde von krakelenden Student*innen. Protektionismus bedient sich heute nicht mehr der Fremdenfeindlichkeit, sondern reitet auf der Welle der Social Responsibility umher, also Lieferkettengesetze statt Zöllen. So ähnlich ist es auch mit dem Kolonialismus. Der schleicht heute samtpfotiger durch die Gegend. Von westlichen Staaten ausgehend gerne mal mit dem paternalistischen Gestus der Entwicklungshilfe. Aber noch viel eklatanter war die Neuerfindung des Kolonialismus durch einige der Autokratien und Diktaturen unserer Zeit.
So hat etwas Russland seine koloniale Vergangenheit überhaupt nie abgeschüttelt. Dazu gehört, dass ein erheblicher Teil des „Fußvolks“, das seit zwei Jahren in der Ukraine verheizt wird, aus ethnischen Minderheiten rekrutiert wird. Dazu gehören klassische Kolonialkriege wie in Tschetschenien; eine gezielte Politik der Auslöschung nicht-russischer Kulturen; der Einsatz von Milizionären in Syrien, Libyen, Mali und anderen Staaten Afrikas; und die Steuerung von Marionetten-Regimen wie in Belarus, Transnistrien oder in jüngster Zeit in Kirgistan.
Noch sehr viel heftiger als Russland ist die VR China im Kolonialwesen 2.0 unterwegs. Nachdem das kommunistische Regime mit der Unterwerfung von Ostturkestan (Xinjiang) und Tibet in den 1950er Jahren seinen Landhunger gestillt hatte, und man in bewährter Kolonialherrenmanier die Segnungen des Maoismus und der Han-Zivilisation auch den letzten Berg- und Waldvölkern gebracht hatte, begann man, sich daran anzupassen, dass Kolonialismus der klassischen Natur nicht mehr so en vogue war. Man schickt jetzt nicht mehr Kampftruppen in die Länder, die man sich Untertan machen will, sondern Bautrupps, Verträge und günstige Kredite. Anstatt eigene Statthalter und Vizekönige zu entsenden, sourct man das aus an lokale Kräfte, die man sich mit Geld und politischem Rückhalt gefügig macht. Ja, es sind nicht mehr chinesische Truppen, die Aufstände niederschlagen. Aber ohne chinesische Waffen, Militärberater und Rückendeckung auf der internationalen Bühne wäre manches Regime nicht mehr im Sattel.
Geschichte nicht nur aufarbeiten, sondern auch aufhalten!
Interessenpolitik hat seine Rechtfertigung auf internationaler Bühne. Und nicht jede asymmetrische Beziehung zwischen Staaten muss gleich kolonial sein – das wissen wir europäischen Trittbrettfahrer der US-Sicherheitsarchitektur ja nur allzu genau. Aber die Regime von Russland und China versuchen nicht nur nationale Interessen durchzusetzen. Sie perfektionieren einen modernen Kolonialismus, der darauf ausgerichtet ist, dauerhafte Abhängigkeiten zu schaffen und die eigene kulturelle und systemische Hegemonie zu festigen. Gerade letzteres spielt eine gigantische Rolle. Das dominierende System der freiheitlichen Demokratien soll überwunden werden. Diese neue Kolonialpolitik möchte überall Situationen befeuern wie in Belarus, Syrien, Mali oder Pakistan – denn Autokraten sind so viel bessere Partner.
Während sich Studenten in den westlichen Ländern intensiv – und oft auch mit der richtigen Stoßrichtung – damit beschäftigen, die hiesige Vergangenheit bis Gegenwart als Kolonialherren kritisch zu beleuchten, fliegen die heutigen Kolonialmächte völlig unter dem Radar. So wichtig es ist, auch den Opfern von gestern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Haben nicht die Opfer von heute und morgen noch viel mehr von unserer Aufmerksamkeit verdient, weil wir ihre Situation wenigstens noch verändern könnten? Wo sind die aufgebrachten Proteste vor der chinesischen Botschaft, wenn wieder ein Bericht über die Lage der Zwangsarbeiter im Westen des Landes erscheint? Wo wird gegen den Verkauf von Büchern nationalistischer und rassistischer Autoren aus Russland protestiert? Die Schuld des Westens in dieser Frage müsste doch gerade Ansporn sein, ein „Nie wieder!“ in die Welt zu rufen. Wir täten gut daran, die Geschichte kolonialer Barbarei nicht nur aufzuarbeiten, sondern daran mitzuwirken, dass sie nicht weitergeschrieben wird. Da hätten die Leute, die sich der Dekolonialisierung widmen, noch ein weiteres, enorm wichtiges Betätigungsfeld!