Hat die Marktwirtschaft ihren Zenit überschritten? Ja, meint dieser Beitrag, aber die neoklassische Ökonomie könne diese wichtige Frage noch nicht einmal stellen. Bei Aristoteles war Ökonomie noch eine Unterabteilung der Staatswissenschaft und es ging um das gute Leben. Seit Adam Smith ist die Ökonomie zu einer Wissenschaft vom effizienten Funktionieren des Marktes und von der Maximierung des BIP geschrumpft. Wie weit dabei das gute Leben aus dem Blickfeld geraten ist, zeigt die wirtschaftspolitische Diskussion. Sie dreht sich seit Jahrzehnten primär um die Arbeitslosigkeit, neuerdings zunehmend auch um die Verteilung. Die Wachstumsrate des BIP ist von einer Ziel- zu einer Instrumentalvariablen geworden. Wie viel mehr BIP brauchen wir, um die Beschäftigung wenigstens zu stabilisieren? Hinter diesen Prioritäten der Wirtschaftspolitik steckt eine Erkenntnis: Der Markt beeinflusst unser Wohlergehen weniger durch die Menge der Güter und Dienstleistungen, sondern vor allem dadurch, wie er die Gesellschaft organisiert oder desorganisiert, und Menschen aus der Gesellschaft ausschliesst. Arbeitslosigkeit und Ungleichheit sind zwei Dimensionen dieses Ausschlusses. Das Belohnungszentrum unseres Gehirns behandelt soziale Freude und Schmerz (also etwa sozialen Ausschluss) genau gleich wie Hunger, Durst und Kälte.
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Hat die Marktwirtschaft ihren Zenit überschritten? Ja, meint dieser Beitrag, aber die neoklassische Ökonomie könne diese wichtige Frage noch nicht einmal stellen.
Bei Aristoteles war Ökonomie noch eine Unterabteilung der Staatswissenschaft und es ging um das gute Leben. Seit Adam Smith ist die Ökonomie zu einer Wissenschaft vom effizienten Funktionieren des Marktes und von der Maximierung des BIP geschrumpft. Wie weit dabei das gute Leben aus dem Blickfeld geraten ist, zeigt die wirtschaftspolitische Diskussion. Sie dreht sich seit Jahrzehnten primär um die Arbeitslosigkeit, neuerdings zunehmend auch um die Verteilung. Die Wachstumsrate des BIP ist von einer Ziel- zu einer Instrumentalvariablen geworden. Wie viel mehr BIP brauchen wir, um die Beschäftigung wenigstens zu stabilisieren?
Hinter diesen Prioritäten der Wirtschaftspolitik steckt eine Erkenntnis: Der Markt beeinflusst unser Wohlergehen weniger durch die Menge der Güter und Dienstleistungen, sondern vor allem dadurch, wie er die Gesellschaft organisiert oder desorganisiert, und Menschen aus der Gesellschaft ausschliesst. Arbeitslosigkeit und Ungleichheit sind zwei Dimensionen dieses Ausschlusses.
Das Belohnungszentrum unseres Gehirns behandelt soziale Freude und Schmerz (also etwa sozialen Ausschluss) genau gleich wie Hunger, Durst und Kälte. Der Mensch ist gleichsam sozial verdrahtet, er ist von der Evolution auf Kooperation, Mitgefühl und sparsam dosiertes Konkurrenzdenken programmiert. Diese Zusammenhänge sind den Ökonomen aus der Glücksforschung und aus der experimentellen Ökonomie bekannt, konnten aber bisher nicht ins Theoriegebäude eingeordnet werden.
Laut Bruno S. Frey hat die Glücksforschung die Ökonomie "um den sozialen Menschen ergänzt". Es müssten nun ein paar Zusatzannahmen in die Standardökonomie eingeführt werden. Dies dürfe aber nicht ad hoc geschehen. Einverstanden. Genau deshalb muss die Ökonomie wieder im klassischen Sinn das gute Leben ins Zentrum stellen und erkennen, dass der Markt nur eines der Grundmustern ist, nach denen sich der soziale Mensch organisiert, um seine (sozialen) Bedürfnisse zu befriedigen.
Der US-Anthropologe Alan Page Fiske unterscheidet (hier[ a ]) vier dieser Muster - Gemeinschaft, Hierarchie, Gegenseitigkeit und Markt. Jedes dieser Muster hat seine eigenen Regeln und Ordnungsprinzipien. Die Kunst des guten Lebens besteht darin, die richtige Mischung zu finden. Die, die am besten geeignet ist, unsere Bedürfnisse zu befriedigen und das Überleben der Spezies Mensch zu sichern. Die Mischung hängt natürlich von den sich laufend veränderten Umständen ab. Der Markt-Modus hat ein paar Eigenschaften, die schlecht zu diesen Umständen passen:
Wenn die Menschen im Markt-Modus funktionieren, achten sie nur auf den Ergebnisnutzen. Es geht darum, in möglichst kurzer Zeit, mit wenig Aufwand viel "Zeug" herzustellen. Der Prozessnutzen, die Freude an der Arbeit oder am gemeinsamen Tun, ist im Marktmodus ausgeschaltet. In Zeiten der Not, wo jede Brotkrume Leben retten kann, ist das "effizient". Jenseits der Sättigungsgrenze jedoch, wenn man eh zu viel "Zeug" hat, ist dieses Arrangement suboptimal. Wir tauschen sehr viel Prozess- gegen wenig Ergebnisnutzen. Die Glücksforschung ist voll von solchen "Anomalien".
Die Frage der Verteilung
Ein weiterer wunder Punkt betrifft die Verteilung. Im Gemeinschaftsmodus gehört alles allen. Im Hierarchie-Modus dürfen die Chefs zwar mehr nehmen, aber ihre Autorität hängt davon ab, wie sie ihrer Fürsorgepflicht nachkommen. Im Gegenseitigkeitsmodus vergleichen und vergelten wir Gleiches mit Gleichen. Im Marktmodus hingegen erscheint sogar (Schweizer) Jungsozialisten ein Verteilverhältnis von 1 zu 12 als akzeptabel. Im Markt denken wir in Verhältnissen. Firmenchefs setzen ihren Lohn ins Verhältnis zum Umsatz. Für globale Tennis- und Fussballcracks werden die Werbeeinnahmen zum Massstab. Kurz: In einer globalen Wirtschaft begünstigt der Marktmodus nicht-nachhaltige Verteilergebnisse.
Drittens: Im Gemeinschafts- Hierarchie- und Gegenseitigkeitsmodus steht das Soziale im Vordergrund. Es geht darum, miteinander etwas zu tun, die Gesellschaft zu ordnen und durch ständig wiederholte Kontakte ein Netz von langfristigen Verpflichtungen zu knüpfen und Vertrauenskapital zu bilden. Darauf baut der Markt seine Institutionen (Banken, Handelsgerichte etc.) auf und ermöglicht den Austausch auch zwischen Fremden. Das ist deshalb möglich, weil dieser Austausch punktuell und kurzfristig ist. Leistung und Gegenleistung erfolgen (dank Geld) Zug um Zug. Für das Längerfristige ist die Institution der Banken zuständig. Plakativ gesagt: Die ersten drei Modi produzieren den sozialen Kitt, der Marktmodus ist das Lösungsmittel, das Freiheitsgrade schafft und neue Entwicklungen fördert. Die Evolution hat uns den Markt nicht zufällig entwickelt. Zu viel Markt kann aber die Gesellschaft auch auflösen. In diesem Prozess befinden wir uns zurzeit.
Einverstanden. Mit der sehr weitgehenden Arbeitsteilung und Spezialisierung hat der Marktmodus einen enormen Produktionsfortschritt ermöglicht. Gemäss Angus Maddison ist die Produktivität pro Arbeitsstunde in zwölf westlichen Industrieländer seit 1870 um das 21fache (!!) gestiegen. Doch gerade diese Zahl weist auch auf einen weiteren Pferdefuss des Marktmodus hin: Er produziert deshalb so viel, weil er dies auf äusserst umständliche Art tut. Dies deshalb, weil er die Bedürfnisse nur sehr indirekt befriedigt:
Die Umwege des Marktes
In der Selbstversorgung produzieren wir das, was wir brauchen. Punkt. Im Marktmodus stellen wir das her, was wir gut können und von dem wir hoffen, dass wir es anderen verkaufen können, damit wir uns dann mit dem Erlös das kaufen können, was wir wirklich brauchen. Schon dieser Satz (mit 35 Wörtern) deutet an, über wie viele Umwege der Markt sein Ziel erreicht – und wie leicht er das Ziel aus den Augen verlieren könnte. Die neoklassische Theorie wischt dieses Problem mit zwei Tricks weg. Erstens trifft sie die Annahme, dass alle Wirtschaftssubjekte über vollkommene Information verfügen. Zweitens zählt sie alle Umwege einfach zum BIP dazu. Dieses misst streng genommen nicht den gegen Geld geschaffenen Wohlstand, sondern bloss noch die immer grösseren Anstrengungen und Umwege, die dazu nötig sind.
Diese Umwege sind in der Tat sehr lang: Etwa weil die Marktwirtschaft nicht nur auf Bedürfnisse reagiert, sondern diese auch selbst schafft. Bei Nestlé etwa kommen auf jeden Franken eigentliche Produktionskosten noch 70 Rappen Werbung und Vertrieb, und etwa ein Viertel der Produkte vergammelt unterwegs oder beim Endkonsumenten. Und weil hoch spezialisierte Arbeit gegen Geld oft monoton und wenig motivierend ist, braucht die Marktwirtschaft viel Kontrolle. In den USA sind gemäss Samuel Bowles 22 Prozent aller Stellen Kontrolljobs – Vorarbeiter, Aufseher, Justiz, Polizei usw.
Und dann ist das noch das Geld. In der Marktwirtschaft laufen ständig finanzielle Schulden und Guthaben an, die durchgesetzt, aufbewahrt, verwaltet und gehandelt werden müssen. In der Schweiz verschlingt der Finanzsektor 16 Prozent des BIP. Das allein ist kein Pappenstiel, aber es kommt noch schlimmer: Der Finanzsektor regiert das System. Die Schwarmintelligenz der Anleger entscheidet aufgrund eines Zinsgerüchtes in London, wo investiert wird: Afrika shorten, USA übergewichten. Dümmer kann man ein System kaum programmieren.
Pointiert formuliert: Der Markt hat selbst dann bloss die Effizienz einer Glühbirne mit Wolframdraht, wenn man ihn an seiner Kernkompetenz misst – der Bereitstellung von käuflichen Gütern und Dienstleistungen. Und er hat in seiner gegenwärtigen Verfassung einen entscheidenden Schwachpunkt. Er desorgansiert die Gesellschaft, indem er immer mehr Leute von ihr ausschliesst. Die Wirtschaftspolitik hat darauf nur eine Antwort: mehr Wettbewerbsfähigkeit, noch härter arbeiten, Gürtel enger schnallen, Märkte im Ausland erobern. Diese Rechnung kann natürlich nicht aufgehen.
Das heisst nicht, dass man den Markt abschaffen sollte. Aber wir sollten die Intelligenz, die uns die Evolution auch geschenkt hat, nützen, um den Markt besser zu organisieren und in die Gesellschaft einzubetten. Dazu müssen wir ein evolutionäres Verständnis des Marktes entwickeln. Erste sorgfältige Schlussfolgerungen aus der evolutionären Ökonomie können wir aber heute schon skizzenhaft ziehen: Erstens: Wir brauchen generell wieder mehr Selbstversorgung und weniger Markt. Zweitens: Wir müssen die Markt begleitenden inklusiven Institutionen erhalten oder ausbauen. Die materielle Abhängigkeit von der (schwindenden) bezahlten Arbeit muss verringert werden. Das ist auch eine Frage der Machtbalance. Drittens: Die Märkte müssen vermehrt regional organisiert werden.
Der letzte Punkt ist hoch aktuell. Der Versuch, Länder zu entwickeln, indem man sie in einen globalen Markt integriert, hat dazu geführt, dass statt der Waren und Dienstleistungen die Menschen mobil werden – millionenfach.
©KOF ETH Zürich, 22. Jan. 2016
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