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Wenn Nanny Leviathan die Vielfalt drosselt

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Photo: Dorotheum from Wikimedia Commons (CC 0) Der Edelmann Falstaff gehört zu den eindrucksvollsten Figuren, die William Shakespeare der Weltliteratur geschenkt hat. Ein veritabler Bonvivant, der sich keinen Genuss entgehen lässt. Jemand, dessen Gesellschaft jede Kneipenrunde mit dröhnender Heiterkeit erfüllt und die Sorgen des Alltags vergessen lässt. „Lasst fette Männer um mich sein!“ legt Shakespeare in einem anderen Stück dem Julius Caesar in den Mund. Denn diese Männer sind ungefährlich, verträglich und vergnügt. In den Ländern der westlichen Welt hat ein Falstaff heute kaum mehr eine Chance. Suchen Sie mal solche Typen in den Büchern, Filmen oder Serien der letzten Jahre; unter den Popstars und Talkshow-Gastgeberinnen. Das letzte Aufbäumen dieser ungebremsten Lebenslust finden Sie

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Photo: Dorotheum from Wikimedia Commons (CC 0)

Der Edelmann Falstaff gehört zu den eindrucksvollsten Figuren, die William Shakespeare der Weltliteratur geschenkt hat. Ein veritabler Bonvivant, der sich keinen Genuss entgehen lässt. Jemand, dessen Gesellschaft jede Kneipenrunde mit dröhnender Heiterkeit erfüllt und die Sorgen des Alltags vergessen lässt. „Lasst fette Männer um mich sein!“ legt Shakespeare in einem anderen Stück dem Julius Caesar in den Mund. Denn diese Männer sind ungefährlich, verträglich und vergnügt.

In den Ländern der westlichen Welt hat ein Falstaff heute kaum mehr eine Chance. Suchen Sie mal solche Typen in den Büchern, Filmen oder Serien der letzten Jahre; unter den Popstars und Talkshow-Gastgeberinnen. Das letzte Aufbäumen dieser ungebremsten Lebenslust finden Sie womöglich bei den Hobbits in den Tolkien-Verfilmungen. Die Helden unsere Zeit rauchen nicht, lassen Alkohol links liegen, haben einen idealen BMI und verstehen unter Geselligkeit eine Joggingrunde nach der Arbeit und vor dem Super-Food-Abendessen.

Körperliche Gesundheit ist das Wichtigste. So wird uns nicht nur von Fitnessmagazinen und Ernährungsberatern immer wieder suggeriert. Auch staatlich vorgegebene Lebensmittelampeln und Aufklärungsprogramme sollen zu unserer physischen Optimierung beitragen. Die gegenwärtige Pandemie hat diesen Trend noch einmal verstärkt.

Und man muss ja auch ehrlich sein: Manch eine, die im Wartezimmer sitzt und auf das Biopsie-Ergebnis wartet, wird womöglich reuevoll auf ihre Raucherinnen-Karriere zurückblicken. Und schnaubende adipöse 30jährige verstrahlen nicht immer nur gute Laune, sondern oft auch Hilflosigkeit, Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit. Genussinduzierter Raubbau am eigenen Körper ist nicht das Ideal aller menschlichen Existenz.

Aber: Das Leben ist auch sehr vielschichtig. Wie Menschen glücklich werden, ist nicht von anderen zu bestimmen. Die Bandbreite reicht von Ultimate Frisbee bis zeitgenössischer Oper, von Auto Tuning bis Sudoku-Lösen und umfasst auch lange Nächte in verrauchten Clubs oder fettige Burger, die man sich organisiert, um dem Cannabis-Heißhunger nachzugehen.

Auch wie wir unsere Zeitpräferenzen setzen, kann durchaus sehr unterschiedlich sein: manche spart viele Jahre für eine besondere Anschaffung, während ein anderer dieselbe Summe jeden Monat für guten Whisky ausgibt oder beim Pokern verzockt. Der entscheidende Punkt ist: Eine freie, marktwirtschaftlich organisierte und zunehmend tolerantere Gesellschaft ermöglicht es uns, die bunteste Vielfalt an Lebensentwürfen zu verwirklichen.

Paradoxerweise finden die wachsende Vielfalt wie auch deren zunehmende Wertschätzung kaum Eingang in mediale und politische Diskurse, sobald Themen berührt werden, die dem absoluten Wert der körperlichen Gesundheit an den Kragen gehen könnten. „Lebe wie Du willst!“ schallt durch die Lande – aber bitteschön ohne Zucker, Salz, Fett, Alkohol, Tabak … Man feiert Hannah Arendt als Vordenkerin der Pluralität, ist aber kurz davor, ihre Zigaretten zu canceln. Wo ist der Respekt vor alternativen Lebensformen, wenn es um die individuellen Genusspräferenzen geht?

Westliche Gesellschaften arbeiten mit immer höherer Schlagzahl an der Erschaffung des neuen Menschen. Seit 2016 observiert das Londoner Institute of Economic Affairs diese Trends mit seinem regelmäßig veröffentlichten Nanny State Index, in dem Regulierungen von Genussmitteln in verschiedenen europäischen Ländern miteinander verglichen werden. Der Blick auf die Regulierungslandkarte birgt so manche Überraschung.

Dazu gehört, dass Deutschland nicht nur das einzige Land ohne generelles Tempo-Limit ist, sondern auch im Vergleich mit der EU und Großbritannien dasjenige mit den geringsten Einschränkungen auf Vertrieb und Konsum gesundheitsgefährdender Genussmittel. Und es ist bezeichnend, dass die Grünen, deren Milieu sich oft an der Spitze der besserwisserischen Lebensoptimierung befindet, aus der Veggie Day-Affäre des Wahlkampfs 2013 gelernt haben und derzeit auffallend unauffällig sind, wenn es um Liefstyle-Regulierungen geht.

Neben Deutschland  schneiden noch Tschechien, Luxemburg, Spanien und Italien recht ordentlich ab, während die baltischen und skandinavischen Staaten sowie Ungarn ihren Bürgern im Konsum ebenso enge Grenzen setzen wie der unternehmerischen Freiheit in diesen Bereichen. Auffällig ist – das hat der Index dieses Jahr anschaulich herausgearbeitet –, dass keinerlei Korrelation zu finden ist zwischen dem Abschneiden der Staaten im Index und der jeweiligen durchschnittlichen Lebenserwartung. Ja, gerade auch traditionell weniger paternalistische Länder wie Spanien und Italien stehen europaweit ganz vorne in dieser Hinsicht.

Und was für ein Leben wird die durchschnittliche Italienerin geführt haben, die mit über 80 Jahren das Zeitliche segnet! Natürlich auch mit viel Sorge und Mühsal, aber eben auch mit opulenten Gastmählern im Kreis all ihrer Lieben. Sie wird ihrem Mann die ein oder andere Zigarette stibitzt und auch andere Eseleien begangen haben. Diese Frau ist womöglich genau so glücklich gewesen wie der gleichaltrige Norweger, der gestählt durch tägliche Joggingrunden bis zu seinem Tod noch Nachhilfestunden für seine Enkel geben konnte und nicht einmal anlässlich der Goldenen Hochzeit ein Glas Sekt zu sich genommen hat.

Glück ist in so unterschiedlichen Ausfertigungen lieferbar wie Menschen auf diesem Globus wandeln. Eigentlich ist diese Erkenntnis doch immer stärker in unseren Gesellschaften verankert worden. Vor zwei Jahrhunderten hat man begonnen, jungen Menschen zuzugestehen, an der Auswahl ihrer Ehegatten beteiligt zu werden – heute stehen wir in den meisten Ländern nicht mehr den Herren im Wege, die sich eher einen Gatten aussuchen möchten. Wenn ein Vater heute seiner Tochter den eigenen Beruf aufzwingen will, wird er schräg angesehen. Und der Richterin, die ihre sichere Stelle verlässt, um sich als Yogalehrerin neu zu erfinden, widmet man eine ganze Fernsehreportage.

Dass aber Glück auch im Hier und Jetzt eines Rausches bestehen kann, ist für viele unvorstellbar. Dass Menschen sich, oft durchaus im Bewusstsein der Gefahren, für eine Genuss entscheiden, bisweilen auch einen exzessiven, wird nicht mehr als individuelle Präferenz begriffen, sondern als Ausdruck brandgefährlicher Ignoranz oder konsumgesteuerter Hilflosigkeit.

Und so schwingen sich ganze Gesellschaften, oder zumindest die sie vertretenden Intellektuellen und Politiker, zu Richtern auf über das, was legitimes und illegitimes, „wahres“ und „falsches“ Glück sein soll. Der paternalistische Nanny Leviathan schickt sich an, eine „brave new world“ zu erschaffen, die Diversität und Pluralismus plakatiert und dabei Individualität erstickt.

Wir sind inzwischen weit über den Punkt hinaus, an dem Aufklärung über mögliche Langzeitfolgen bestimmter Konsumverhalten durchaus sinnvollerweise betrieben wird. Wir leben nicht mehr in jener Zeit, wo Zwölfjährigen Videos mit Raucherlungen gezeigt wurden oder mit der Grundschulklasse Gemüseeintopf geschnibbelt wurde. All die vielen Diskurs-Maßnahmen, die ergriffen wurden, um für Gesundheit zu sensibilisieren. Nein, wir sind inzwischen in einer Epoche angelangt, wo für Caesars fette Männer oder die rauchende Hannah Arendt nur noch die Optionen „dumm“, „verantwortungslos“ oder „böse“ zur Verfügung stehen. Toleranz ist eine so wunderschöne Errungenschaft unserer Zeit. Wir dürfen sie nicht erodieren lassen!

Am Ende bleibt nur, dem einzelnen dann doch ein großes Stück weit zu vertrauen. Das ist ja der Kern der demokratischen Mitbestimmung: dass man den Bürgerinnen zutraut, Entscheidungen treffen zu können. Lasst die Menschen ihr Leben leben – laissez-faire, laissez-passer! Ein Gedankenexperiment in Anlehnung an Albert Camus‘ große Schrift über den Mythos des Sisyphos mag uns dabei helfen: Wir müssen uns Falstaff als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Den Nanny State Index können Sie hier abrufen: http://nannystateindex.org/

Und eine ergänzende Analyse von Prometheus finden Sie hier: https://prometheusinstitut.de/wp-content/uploads/2021/06/Nanny-State-Index-2021-Der-Einfluss-von-Lifestyle-Regulierungen-auf-die-Gesundheit-der-Buerger.pdf

Clemens Schneider
Clemens Schneider, born in 1980, co-founded the educational project „Agora“ Summer Academy and the blog „Offene Grenzen“ („Open Borders“). From 2011 to 2014 he held a scholarship by the Friedrich Naumann Foundation and held responsible positions there organizing several seminars and conferences. He is active as blogger and speaker and is in constant contact with the young members of the pro-liberty movement.

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