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Offene Grenzen – aber wie?

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Photo: Michael Matlon from Unsplash (CC 0) Die Globalisierung hat die Welt näher zusammengebracht, doch die Personenfreizügigkeit hinkt hinterher. Wie können offene Grenzen gelingen? Eine Frage der Machbarkeit Grenzen schaffen individuelle Verhinderungsgeschichten. Das haben viele Millionen Menschen während der Corona-Pandemie vielleicht zum ersten Mal am eigenen Leib erfahren müssen. Dass diese persönliche Erfahrung bei der Neubewertung von Grenzen sehr hilfreich sein kann, habe ich an dieser Stelle vor einigen Wochen dargelegt – und eine Fortsetzung in Aussicht gestellt, die sich mit der Machbarkeit offener Grenzen befasst. Um die Diskussion greifbar zu machen, setzen wir also einmal eine grundsätzliche Einigkeit über die positiven Effekte größerer Personenfreizügigkeit, egal welcher

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Die Globalisierung hat die Welt näher zusammengebracht, doch die Personenfreizügigkeit hinkt hinterher. Wie können offene Grenzen gelingen?

Eine Frage der Machbarkeit

Grenzen schaffen individuelle Verhinderungsgeschichten. Das haben viele Millionen Menschen während der Corona-Pandemie vielleicht zum ersten Mal am eigenen Leib erfahren müssen. Dass diese persönliche Erfahrung bei der Neubewertung von Grenzen sehr hilfreich sein kann, habe ich an dieser Stelle vor einigen Wochen dargelegt – und eine Fortsetzung in Aussicht gestellt, die sich mit der Machbarkeit offener Grenzen befasst. Um die Diskussion greifbar zu machen, setzen wir also einmal eine grundsätzliche Einigkeit über die positiven Effekte größerer Personenfreizügigkeit, egal welcher Natur, voraus. Eine Ansicht, die mit der grundlegenden Skepsis freiheitlich argumentierender Menschen gegenüber ähnlich umfassenden Eingriffen des Staates in die Privatautonomie gut vereinbar ist. Politikvorschläge für die Umsetzung offener(er) Grenzen gibt es genug: doch welche sind wirklich gut? Und welche halten einer Abendbrot-Diskussion mit dem konservativen Onkel stand?

„Gute“ offenen Grenzen: Robust, akzeptiert und geeignet

Die politische Ökonomik befasst sich (unter anderem) mit der objektiven Bewertung von Politikvorschlägen. Objektivität wird hierbei nicht durch absolute Wahrheiten, sondern durch Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Bewertungskriterien erzielt. Anhand welcher Kriterien lassen sich Politikvorschläge für offene Grenzen bewerten?

Ein Grenzregime setzt sich aus einer Vielzahl an Institutionen zusammen; quasi den Spielregeln unseres Zusammenlebens. Institutionen können robust sein wie beispielsweise die britische Monarchie. Oder fragil wie der somalische Staat. Institutionenökonomen wie der Ökonom und Politikwissenschaftler Mark Pennington haben festgestellt, dass die Robustheit von Institutionen vor allem davon abhängt, wie gut sie die fundamentalen menschlichen Imperfektionen abmildern kann. Diese bestehen in der begrenzten Verfügbarkeit von Informationen und der Tendenz, sich opportunistisch zu verhalten. Oder etwas klarer ausgedrückt: Ignoranz und Rücksichtslosigkeit. Das soll keinesfalls ein pessimistisches Menschenbild á la Thomas Hobbes vermitteln. Es bedeutet lediglich, dass Institutionen, die auch unter der Prämisse eines solchen Menschenbildes noch funktionieren, als robuster gelten können als solche die lauter kleine Engel voraussetzen.

Da es hier um die Machbarkeit offener Grenzen geht, muss zusätzlich zur Robustheit mit einbezogen werden, wie viel Akzeptanz ein reformiertes Grenzregime in der demokratischen (und wählenden) Bevölkerung erzeugen würde. Zuletzt müssen Institutionen für offene Grenzen selbstredend auch einer telelogischen Überprüfung standhalten. Sprich, ob sie überhaupt den Zweck erfüllen können, mehr Personenfreizügigkeit für eine möglichst große Gruppe an Menschen zu erzielen.

Anhand der drei Kriterien (1) Robustheit, (2) Akzeptanz und (3) Zweckerfüllung schauen wir uns also nun drei Politikvorschläge für offene(re) Grenzen an. Zur besseren Vergleichbarkeit erhält jeder Politikvorschlag zwischen einem und fünf Punkten pro Kriterium.

Vorschlag 1: Punktesystem

Das Punktesystem gilt als Allheilmittel für eine effizienter gesteuerte Zuwanderung. Beispielhaft umgesetzt werden Punktesysteme derzeit in Kanada und Australien und im Vereinigten Königreich. Die Idee dahinter ist recht simpel: Potenzielle Migranten werden anhand von politisch bestimmten Kriterien bewertet und auf Basis des erreichten Punktwertes wird ihnen ein Einwanderungsangebot gemacht – oder eben nicht. Das Vereinigte Königreich bewertet zum Beispiel das Vorliegen eines Arbeitsangebotes (20 Punkte), Qualifikation (20 Punkte), Sprachkenntnisse (10 Punkte), Höhe des Gehalts (10 bis 20 Punkte), die Ausübung eines sogenannten Mangelberufs (20 Punkte) oder das Vorliegen einer Promotion (10 bis 20 Punkte). Mit 70 Punkten ist man dabei.

Die fundamentale Idee hinter jedem Punktesystem ist also, dass nur bestimmte Einwanderung tatsächlich vorteilhaft für die nationale Gesellschaft ist. Darunter fällt vor allem hochqualifizierte (Stichwort Promotion) und solche, die bestimmte Mängel adressiert. Außerdem wird die Integrationsfähigkeit bewertet, zum Beispiel anhand der Sprachkenntnisse.

Wie gut ist das Punktesystem? Was die Robustheit betrifft, ergibt sich ein uneindeutiges Bild. Die relativ hohen Anforderungen verhindern vermutlich recht effizient opportunistische Einwanderung, also Einwanderung, die beispielsweise lediglich auf die Nutzung nationaler Sozialsysteme abzielt oder der kriminellen Betätigung dient (Vorsicht: Damit ist wahrlich nicht gemeint, dass Einwanderer dies grundsätzlich beabsichtigen!). Zumindest prima facie, denn sobald Einwanderer die Punktehürde gemeistert haben, unterliegen sie kaum noch weiteren Einschränkungen. Allerdings begegnet das Punktesystem unser menschliches Informationsdefizit denkbar schlecht. Dass der Staat Mangelberufe definiert und für diese Einwanderung aktiv fördert, hat absolut planwirtschaftliche Züge. Es steht zu befürchten, dass die Einwanderung der marktwirtschaftlichen Nachfrage stets hinterherläuft und Scheinnachfrage generiert, die effizienter bedient werden könnte. Ganz abgesehen davon, dass es absurd ist, zu glauben, man könne die „Integrationsfähigkeit“ von Einwanderern quantifizieren. Da ist tatsächlich ein in dieser Hinsicht „blindes“ Einwanderungssystem wie das deutsche vorzuziehen. Für den Versuch der Informations-Gewinnung gibt es höchstens einen Punkt.

Auch hinsichtlich Akzeptanz und Zweckerfüllung ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Einerseits genießt das Punktesystem vermutlich die höchste Akzeptanz aller Reformvorschläge. Es ist nicht nur bereits umgesetzt und getestet, es begegnet auch den Befürchtungen der einheimischen Bevölkerung vor opportunistischer Einwanderung (also sogenannter Einwanderung in Sozialsysteme). Doch öffnet das Punktesystem wirklich die nationalen Grenzen? Ein bisschen. Es macht Einwanderung im wahrsten Sinne des Wortes berechenbarer. Die gilt aber vor allem für bereits Qualifizierte und Akademiker. Chancen für Menschen jenseits der entwickelten Welt bietet auch dieses System kaum. Denn vielen Menschen aus diesen Teilen der Welt mangelt es genau an den harten Kriterien, die das System setzt.

Robustheit: 4 (Opportunität) + 1 (Information) = 5
Akzeptanz: 5
Zweckerfüllung: 2
Gesamt: 12

Vorschlag 2: Komplette Personenfreizügigkeit

Nun könnte man sich fragen, ob offene Grenzen nicht schlichtweg offene Grenzen bedeuten sollten. Also der Abbau aller Einwanderungshindernisse. Grenzkontrollen dienten allerhöchstens noch der Erfassung und Verzollung – verwehrt würden Nicht-Einheimischen weder Einreise noch Arbeit. Unabhängig woher sie kommen. Das klingt natürlich nach einem freiheitlichen Utopia – doch wäre eine solche Grenzinstitution auch gut?

Bezüglich der Robustheit ergibt sich ein gegenteiliges Bild im Vergleich zum Punktesystem. Die Anwerbung von Arbeitskräften würde den Arbeitgebern überlassen. Der Markt wäre global. Knappheiten könnten so innerhalb kürzester Zeit ausgeglichen werden. Britische Lastwagenunternehmer könnten deutschen Truckern einfach bessere Arbeitsbedingungen anbieten und im wahrsten Sinne unbürokratisch auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren. Auf der anderen Seite begegnet ein solches System opportunistischem Verhalten gegenüber komplett zahnlos. Es bestünde zumindest die Gefahr, dass bestimme Einwanderer die Offenheit für missbräuchliche Zwecke ausnützten. Und auch wenn es sich dabei nur um eine kleinste Minderheit handelte, hätte allein das Risiko fatale Auswirkungen auf die Akzeptanz eines solchen Systems. Wer auch nur den Vorschlag eines solchen Systems in die politische Debatte einbrächte, müsste sich auf einen Sturm der Entrüstung von rechts (Nationalisten) und links (Gewerkschaftler) gefasst machen. Zwar würde die komplette Personenfreizügigkeit wie kein anderes System den Zweck offener Grenzen erfüllen, doch bleibt sie daher wohl für geraume Zeit eine Utopie. Vielleicht sogar zu Recht.

Robustheit: 0 (Opportunität) + 5 (Information) = 5
Akzeptanz: 0
Zweckerfüllung: 5
Gesamt: 10

Vorschlag 3: Schlüsselloch-Lösungen

Deutsche lieben bekanntlich den Mittelweg. Was also wäre der Mittelweg zwischen den zwei „Bazooka-Lösungen“ komplette Öffnung und restriktives Punktesystem? Der US-amerikanische Ökonom Nathanel Smith hat ein Konzept entwickelt mit dem vielsagenden Titel „Don’t restrict migration, tax it!“ (Schränke Migration nicht ein, besteuere sie!). Smith beschäftigt sich dabei mit sogenannten Schlüsselloch-Lösungen. Diese folgen der Idee, spezifische Probleme mit ganz spezifischen Lösungen zu adressieren. Übersetzt auf das Thema Migration hieße das also, Problemen wie mangelnde Akzeptanz oder Robustheit nicht per se mit geschlossenen Grenzen zu begegnen, sondern mit tatsächlich auf die einzelnen Probleme ausgerichteten Lösungen.

Konkret schlägt Smith folgendes vor: Es gibt grundsätzliche keine staatlich gelenkte Einwanderungspolitik (analog zu Punkt 2). Allerdings muss jeder Einwanderer (1) eine Rückkehr-Kaution hinterlegen, die in etwa der Höhe der Rückreisekosten entspricht. Sollte der Immigrant „scheitern“ und auf Sozialleistungen angewiesen sein oder gegen andere Einwanderungsregeln verstoßen (z.B. durch kriminelle Aktivitäten), deckt die Kaution die Kosten für eine notwendige Rückführung. (2) Jeder Einwanderer muss einen Aufschlag auf die Einkommenssteuer zahlen. Dieser wird dafür verwendet, etwaige oder gefühlte Nachteile für die heimische Bevölkerung (beispielsweise durch Lohnkonkurrenz) auszugleichen, etwa in Form von Transferleistungen. (3) Jeder Einwanderer wird dazu verpflichtet, zusätzlich zum Steueraufschlag monatlich einen Teil des Einkommens auf ein Sparkonto zurücklegen. Dieses wird bei Rückkehr in das Heimatland an den Migranten ausgezahlt oder lässt sich bei Erreichen einer bestimmten Höhe (nach einigen Jahren) in eine Staatsbürgerschaft umwandeln, wobei die Einlage dem Einwanderungsstaat zufällt.

Ein solches System wäre tatsächlich äußerst robust. Es vereinte die grundsätzlichen Informationsvorteile eines vollkommen offenen Systems (Vorschlag 2) mit effizienten Instrumenten zu Vermeidung opportunistischen Verhaltens. So diente die Rückkehr-Sicherheit der Vermeidung kriminellen Verhaltens und der sogenannten Einwanderung in den Sozialstaat. Außerdem schafft der Sparkontozwang einen direkten Anreiz zur Rückkehr in das Heimatland, wovon vor allem die entsenden Gesellschaft profitieren würde. Vor allem aber zielt Smith darauf, die Akzeptanz in der aufnehmenden Bevölkerung zu erhöhen: Sowohl durch die Maßnahmen zur Vermeidung von opportunistischem Verhalten als auch durch den Steuertransfer und die Gebühr für den Erwerb der Staatsbürgerschaft. Trotzdem könnten einige Konservative das System als für zu liberal und unerprobt empfinden und Linke als (wesentlich) zu restriktiv gegenüber dem Migranten.

Allerdings, und das betrifft die Zweckerfüllung, würde ein solches Schlüsselloch-System zumindest jedem Migranten, der die Sicherheitsleistung aufbringen kann, eine Chance ermöglichen. Vor die Wahl gestellt, abertausende Dollar für eine lebensgefährliche Mittelmeerüberfahrt aufzubringen oder aber eben für ein Flugticket und eine Kaution, würde sich die Situation gerade für jene Menschen deutlich verbessern, die heute so gut wie gar keine Chance haben, legal an der Ausweitung und Verbreitung unseres Wohlstandes zu partizipieren. Da sind die zusätzliche Besteuerung und der Sparzwang zwar eine „saurer Drops“, der aber in keinem Verhältnis steht zur undurchlässigen Grenzmauer, vor der heute hunderte Millionen Menschen stehen.

Robustheit: 5 (Opportunität) + 5 (Information) = 10
Akzeptanz: 3
Zweckerfüllung: 4
Gesamt: 17

Fazit: Völker hört die Signale!

Die Globalisierung hat unsere Welt auf beispiellose Art näher zusammengebracht. Doch die Personenfreizügigkeit hinkt hinterher und bremst dadurch gewaltige Wachstumspotentiale.

Diese Analyse hat wahrlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit – es gibt mit Sicherheit dutzende weiterer guter Ideen für offenere Grenzen. Aber sie zeigt: Es ist möglich, mehr Personenfreizügigkeit zu erreichen. Und sie zeigt welche grundlegenden Probleme eine Grenzreform adressieren sollte, damit sie Aussicht auf Erfolg hat. Dabei sollten immer die konkreten Hindernisse im Fokus stehen. Das betrifft vor allem die gesellschaftliche Akzeptanz. Sich diese mit auf den ersten Blick harschen Restriktionen für Immigranten „zu erkaufen“, könnte ein guter Mittelweg sein zwischen unregulierter Öffnung und staatlich gelenkter Migration.

Vielleicht wird das 21. Jahrhundert dasjenige einer ganz anderen „Internationalen“. Einer, die Wohlstand durch offene Grenzen bringt und allen Menschen den freien Austausch miteinander ermöglicht. Machbar wäre es.

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