Photo: Metropolitan Museum of Art (CC 0) Von Nikolai Ott, Studentische Hilfskraft am Zentrum für Internationale Studien (ZIS) und am Lehrstuhl für Völkerrecht und Europarecht der TU Dresden. In diesen verrückten Zeiten muss ich immer öfter an eine Anekdote denken, die in liberalen Kreisen gerne erzählt wird. Im befreiten Paris der Nachkriegszeit hatten sich französische Intellektuelle im Rive Gauche, der südlichen Seite der Seine rund um die Grands Boulevards, in den Cafés zu Aprikosen-Cocktails getroffen, um über die Zukunft Frankreichs zu debattieren. Viele, vermutlich die überwiegende Mehrheit, waren links: Simone de Beauvoir, Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre neben weiteren. Raymond Aron war eine Ausnahme, seine Teilnahme an diesen Gesprächen auch eher ein Zufall und Produkt
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Von Nikolai Ott, Studentische Hilfskraft am Zentrum für Internationale Studien (ZIS) und am Lehrstuhl für Völkerrecht und Europarecht der TU Dresden.
In diesen verrückten Zeiten muss ich immer öfter an eine Anekdote denken, die in liberalen Kreisen gerne erzählt wird. Im befreiten Paris der Nachkriegszeit hatten sich französische Intellektuelle im Rive Gauche, der südlichen Seite der Seine rund um die Grands Boulevards, in den Cafés zu Aprikosen-Cocktails getroffen, um über die Zukunft Frankreichs zu debattieren. Viele, vermutlich die überwiegende Mehrheit, waren links: Simone de Beauvoir, Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre neben weiteren. Raymond Aron war eine Ausnahme, seine Teilnahme an diesen Gesprächen auch eher ein Zufall und Produkt seiner langjährigen Freundschaft aus Studienzeiten mit Sartre. Ein Liberaler und der Vorzeige-Marxist der Gegenwart – das konnte nicht lange gut gehen. Immer öfter zerstritten sie sich. Bei einer Streiterei, vermutlich hatte Sartre schon einige Cocktails getrunken, warf er Aron plötzlich vor: „Mon petit camarade, pourquoi as-tu peur de déconner?“
Übersetzt lautet dies in etwa: „Mein kleiner Kamerad, warum hast du solche Angst, Unsinn zu erzählen?“. Diese Anekdote zu erzählen, erfüllte für Liberale auch ein distinktives Bedürfnis. Man wollte sich distanzieren von einer linken Attitüde, die mit jakobinistischem Eifer die großen Welterzählungen propagierte. Der Konflikt zwischen Aron und Sartre war stellvertretend für einen größeren Konflikt zwischen Revolution und Reform, zwischen linkem Ästhetizismus und bürgerlicher Zurückhaltung, zwischen dem Versprechen revolutionärer Anführer und dem Wandel durch stabile Institutionen. Das liberale Selbstbild nach dem Zweiten Weltkrieg verstand sich als Antithese zu den vielen fiebrigen, mit erhobener Stimme predigenden, stets den Untergang ahnenden Intellektuellen, die die Deutschen in der Weimarer Republik in die Arme der Nationalsozialisten trieben. Der französische Intellektuelle Julien Benda hatte hierin in seinem berühmten Essay den „Verrat der Intellektuellen“ konstatiert. Sein Essay wurde in der Vor- und Nachkriegszeit zwar bekannt, aber weitestgehend ignoriert; die französische Neuauflage von 1946 wurde von Linken höchstens belächelt. Rückblickend sollte Jean Améry 1976 resigniert feststellen: „Was sollte in der Stunde Jean-Paul Sartres der staubtrockene Rationalismus Bendas?“
Es schlägt wieder die Stunde von Sartre – nur unter rechtskonservativen Vorzeichen. Da wird gezündelt, von der großen Revolution geträumt, unfehlbare Führer werden ausgerufen und eine Mélange an Feindbildern grassiert. Auch manch Rechtsliberaler scheint sich in dieser Bewegung freiwillig einzugliedern. Anders lässt sich die Faszination mit Donald Trump, mit Elon Musk – teilweise auch mit Javier Milei – nicht erklären. Der Fall der amerikanischen Institutionen wird von manchen bejubelt, von anderen heimlich unterstützt (man spart doch schließlich Steuern) und von weiteren totgeschwiegen. Elon Musk, dessen Tweets mittlerweile wie eine Mischung aus Martin Heideggers Rektoratsrede und Ernst Jüngers Berichten aus dem Schützengraben klingen, wird als Prophet der Disruption gefeiert. Der Ton wird härter; manch einer sagt, so hart wie die Zeiten es erfordern. Nur so jemand wie Trump könne den Untergang des Abendlandes noch stoppen, tönt es in jenen Kreisen. Dass wegen dieser Regierung bald kein Oppositionsmedium in Osteuropa mehr finanziert wird, ist den selbsternannten Rettern des Westens egal. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, hatte der deutsche Jurist Carl Schmitt einst den linken Humanisten vorgeworfen. Heute muss das Zitat den rechten Zivilisationsrettern gelten.
Ein „Opium der Intellektuellen“ diagnostizierte der erwähnte Raymond Aron mit Blick auf die anziehende Wirkung des Sozialismus gesprochen. Das Versprechen einer besseren Welt, schnellen Umschwüngen, großen Führern und einer gleichzeitig tiefen Frustration mit dem Status quo hatte viele Denker gepackt. Es radikalisierte sie, brachte sie gewaltsam gegen die noch unstabilen Institutionen auf und zerstörte zahlreiche Freundschaften. Sartre hatte nicht nur Aron verschmäht, auch der demokratische Sozialist Albert Camus musste nun öffentlich denunziert werden. Was damals der Sozialismus war, ist heute der Kulturkampf. Er hatte zuerst manche linken Intellektuellen dazu gebracht, die Voraussetzungen des Westens zu relativieren – nur damit Rechtskonservative ihn heute ganz einreißen können. Der liberale Professor Jan-Werner Müller stellte unlängst resigniert die Radikalisierung eines Niall Ferguson fest. Ausgerechnet die selbsternannten Retter des Westens tanzen in ihrer Radikalisierung nun an den Tischen von Mar-a-Lago zu „YMCA“. Neben Ferguson wären hier beispielsweise seine Frau Ayaan Hirsi Ali oder Douglas Murray zu nennen, und selbst von Bari Weiss ist kaum Widerstand zu erwarten. In Deutschland sind es Ulf Poschardt oder Anna Schneider, die nach der Pfeife der Disruption tanzen.
So wie es in den 1950ern zum guten Ton gehörte, nach Kuba zu reisen, um mit Fidel Castro eine Zigarre zu rauchen, müssen radikalisierte Konservative heute die Genialität von Elon Musk anerkennen. Diesem ach so großartigen Unternehmer nimmt mancher nicht mal übel, dass er täglich etwa zehnmal lügt. Anderen stolzen Kulturkämpfern reicht es, dass ihnen Trump ein Verbot von Transsexuellen im Frauensport oder ein Ende von DEI-Praktiken als Häppchen hinwirft. Der Pate des Weißen Hauses hat als talentierter Clanchef verstanden, wie man in einer Teile-und-Herrsche-Logik auch noch die verbittertsten Feinde irgendwann hinter sich versammelt. Gleichzeitig zeigt er, wie manche Bürgerliche in einer grassierenden Prinzipienlosigkeit, einem tiefen Nihilismus folgend, den Weg zur Knechtschaft ganz freiwillig ebnen – in der Hoffnung, nach dem Systemsturz eine weniger „woke“ Welt vorzufinden.
Der Liberalismus als politische Bewegung ist in seiner noch jungen Geschichte viele strategische Bündnisse eingegangen – mal mit Sozialisten, mal mit Konservativen. Was er jedoch überwiegend vermieden hatte, war, den „Versuchungen der Unfreiheit“ nachzugehen. In seinem letzten Buch mit diesem Titel skizzierte Ralf Dahrendorf einst den Archetyp liberaler Intellektueller, die im Jahrhundert des doppelten Totalitarismus dem „Opium der Intellektuellen“ nie erlagen. Dahrendorf nannte diese Persönlichkeiten „Erasmier“, nach dem Vorbild von Erasmus von Rotterdam in den Zeiten der Reformation. In seiner „Gesellschaft Erasmiana“ versammelte er neben dem erwähnten Raymond Aron die Liberalen Isaiah Berlin und Karl Popper. Sie einte, dass sie in Zeiten von Faschismus und Kommunismus ihren liberalen Überzeugungen treu blieben. Ein Erasmier, so Dahrendorf, zeichne sich zunächst durch die Fähigkeit aus, sich – auch wenn man allein bleibt – nie vom eigenen Kurs abbringen zu lassen. Zweitens durch die Rolle als „engagierter Beobachter“, der sich von niemandem vereinnahmen ließ. Und schließlich durch die „leidenschaftliche Hingabe an die Vernunft“, die es ermöglicht, mit den Widersprüchen der Welt zu leben.
Gott sei Dank muss Ralf Dahrendorf heute nicht miterleben, wie die „Versuchungen der Unfreiheit“ zurückgekehrt sind. Wer folgt heute noch der bürgerlichen Zurückhaltung eines Raymond Aron, der aus lauter Angst, etwas Falsches zu sagen, zunächst schwieg? Wer hört in Zeiten des Kulturkampfes noch auf Isaiah Berlins Gedanken, dass man in einer pluralistischen Gesellschaft miteinander auskommen muss? Wo Isaiah Berlin damals mit Kant den Menschen als „krummes Holz“ beschrieb, wird heute ein nietzscheanischer Musk-Geniekult gefeiert. Und wer denkt in diesen Zeiten der Disruption noch an Karl Poppers offene Gesellschaft, die sich nicht durch Revolutionen, sondern durch eine behutsame Reformpolitik der kleinen Schritte auszeichnet?
Der Umgang mit Elon Musk und Donald Trump ist ein guter Lackmustest dafür, wie ernst es jemand mit liberalen Prinzipien meint. Selbst aus libertärer Sicht hat die Philosophin Deirdre McCloskey einst festgestellt, wie eng eine liberale Marktgesellschaft mit den „Tugenden der Bourgeoisie“ zusammenhängt – fehlen die Werte, stirbt auch der freie Markt. In Anlehnung an den deutschen Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde ließe sich sagen, dass es sich hierbei um jene „Voraussetzungen“ handelt, „die der Staat selbst nicht garantieren kann“. Wir sehen heute in den USA, wie eine liberale Gesellschaft zu zerbrechen droht. Die Stunde von Sartre hat auch auf unserem Kontinent wieder geschlagen. Werden sich Bürgerliche an der Demontage des freiheitlichen Staates in Europa beteiligen? Das ist die Gretchenfrage dieses Jahrzehnts.