„Das Volk hat entschieden.“ „Ein Sieg für die Demokratie.“ „Das Volk hat gegen die Eliten rebelliert.“ Kurz: Das Brexit-Votum war ein Paradebeispiel für gelungene Demokratie. Solche und ähnliche Äußerungen waren in den letzten Tagen bei Befürwortern des Brexit vermehrt zu lesen. Fast unverhohlen der Jubel, dass die einfachen Menschen es „denen da oben“ jetzt mal gezeigt haben. Dass sie sich zurückerobern, was nach Recht und Billigkeit das Ihre ist: die Volkssouveränität. Mit Verlaub: dieser Jubel ist grotesk. Er erinnert an die Argumentationsweise übereifriger Politikamateure, die das Wort „undemokratisch“ als Synonym für „dies ist nicht meine Meinung, ich halte sie für böse“ verwenden. Volk ist eine Fiktion Das Volk hat vor einer Woche im Vereinigten Königreich überhaupt nichts entschieden. Eine solide, wenn auch nicht überwältigende Mehrheit von 1,27 Millionen Briten, die zur Wahl gegangen sind, haben sich für die Option „Leave“ ausgesprochen. Insgesamt haben 46,5 Millionen Briten abgestimmt. Das Votum ist klar und es ist auf demokratischem Wege zustande gekommen. Es ist aber keineswegs eine Entscheidung des britischen Volkes. Was soll das überhaupt sein, dieses britische Volk? Obwohl Großbritannien mit etwa 64 Millionen Einwohnern ein Stück kleiner ist als Deutschland, ist es vielleicht noch heterogener als unser Land.
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„Das Volk hat entschieden.“ „Ein Sieg für die Demokratie.“ „Das Volk hat gegen die Eliten rebelliert.“ Kurz: Das Brexit-Votum war ein Paradebeispiel für gelungene Demokratie. Solche und ähnliche Äußerungen waren in den letzten Tagen bei Befürwortern des Brexit vermehrt zu lesen. Fast unverhohlen der Jubel, dass die einfachen Menschen es „denen da oben“ jetzt mal gezeigt haben. Dass sie sich zurückerobern, was nach Recht und Billigkeit das Ihre ist: die Volkssouveränität. Mit Verlaub: dieser Jubel ist grotesk. Er erinnert an die Argumentationsweise übereifriger Politikamateure, die das Wort „undemokratisch“ als Synonym für „dies ist nicht meine Meinung, ich halte sie für böse“ verwenden.
Volk ist eine Fiktion
Das Volk hat vor einer Woche im Vereinigten Königreich überhaupt nichts entschieden. Eine solide, wenn auch nicht überwältigende Mehrheit von 1,27 Millionen Briten, die zur Wahl gegangen sind, haben sich für die Option „Leave“ ausgesprochen. Insgesamt haben 46,5 Millionen Briten abgestimmt. Das Votum ist klar und es ist auf demokratischem Wege zustande gekommen. Es ist aber keineswegs eine Entscheidung des britischen Volkes.
Was soll das überhaupt sein, dieses britische Volk? Obwohl Großbritannien mit etwa 64 Millionen Einwohnern ein Stück kleiner ist als Deutschland, ist es vielleicht noch heterogener als unser Land. Es gibt signifikante Einkommensunterschiede: das BIP in London ist doppelt so hoch wie in der Gegend um Newcastle oder in Wales. Es gibt ausgeprägte Eliten-Schichten und -Traditionen und auf der anderen Seite eine verhältnismäßig große Gruppe an Bürgern, die in prekären Verhältnissen Leben, die sich zum Teil schon über Generationen hinziehen. (Der Gini-Koeffizient des Landes liegt bei 36 – zum Vergleich: in Deutschland, Österreich und der Schweiz liegt er zwischen 26 und 28,3 Punkten.)
Die Fliehkräfte innerhalb des Landes sind erheblich: das hat das schottische Unabhängigkeits-Referendum ebenso gezeigt wie die letzte Parlamentswahl und die jüngste Brexit-Abstimmung. Traditionell gibt es stark ausgeprägte Subkulturen – von den Katholiken in Nordirland über Inder, Pakistaner und Bangladeschis bis hin zu den Einwanderern aus der Karibik. Neben James Bond, Afternoon Tea und der Königin gibt es wenig Verbindendes. Das englische Volk ist eine Fiktion (ebenso wie das europäische Volk, von dem manche der wüsten EU-Romantiker träumen – da treffen sich beide Seiten …).
Wer „dem Volk“ Eigenschaft, Wille und Tätigkeit zuschreibt, der marginalisiert das Individuum
Überhaupt sind solche Kollektivbegriffe tunlichst zu vermeiden für jeden, dem der Wert des Individuums am Herzen liegt. Ist es schon logisch nicht möglich, dass ein Kollektivkörper von zig Millionen Menschen eine Entscheidung treffen kann, so ist eine solche Sprache auch das Einfallstor für die Feinde der Freiheit von rechts und links. Wie oft hört man in den Reden von Pablo Iglesias, Marine Le Pen, Victor Orban oder Sarah Wagenknecht, dass sie die Stimme des Volkes seien? Mit Schlagworten wie „schweigende Mehrheit“ oder „die einfachen Leute“ schwingen sich Feinde der Freiheit auf zu Volkstribunen und maßen sich an, für eine völlig unüberschaubare Gruppe zu sprechen. Wer den Begriff „Volk“ abseits des abstrakten juristischen Sprachgebrauchs nutzt; wer „dem Volk“ Eigenschaft, Wille und Tätigkeit zuschreibt, der marginalisiert das Individuum.
Demokratie ist kein Wert in sich. Demokratie ist ein Verfahren zur Ermittlung zustimmungsfähiger Entscheidungen und zum unblutigen Herrschaftswechsel. Mehr nicht. Dieses Verfahren ist wertvoll, weil es Mitsprache ermöglicht und Konflikte eindämmt. Aber es ist kein absoluter Wert, sondern lediglich Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Selbstbestimmung. Dass Demokratie nicht notwendigerweise diese Ergebnisse zeitigt, demonstrierten und demonstrieren Politiker wie Hugo Chavez, Vladimir Putin oder Recep Erdogan sehr eindrücklich, die alle auf demokratischen Wegen ins Amt gekommen sind. Alexis de Tocqueville warnte schon vor über 150 Jahren, die Demokratie könne zu einer „Tyrannei der Mehrheit“ ausarten. Seine Mahnung hat sich seitdem immer wieder eindrucksvoll bestätigt.
Demokratie ist niemals für sich genommen gut. Demokratie bedarf einer Bestimmung, um gute Wirkungen zu zeitigen. Es gehört zu den großen Leistungen der Autoren des Grundgesetzes, dass Sie das Wort demokratisch in der Regel mit dem Wort freiheitlich kombiniert haben und zugleich die Bedeutung des Rechtsstaates betont haben. Demokratie ist nur solange gut, wie sie das Individuum schützt.
Weltweit berufen sich Freiheitsverächter auf das Votum einer Mehrheit
Zurück zum Brexit: Natürlich steht außer Frage, dass das Referendum in einem Land durchgeführt wurde, das keine ernsthaften Zweifel zulässt an seiner freiheitlichen Tradition und Prägung, ja eine der wichtigsten Brutstätten freiheitlichen Gedankenguts überhaupt ist. Die unterlegenen Bürger tun gut daran, sich an die Spielregeln des demokratischen Geschäfts zu halten – auch an die inoffiziellen, sprich: Die Verteufelung der anderen Wähler zu vermeiden („xenophobe alte Männer, die uns unsere Zukunft versauen“).
Auf der anderen Seite sollten jene, die sich in der Tradition der – gerade englischen und schottischen – Aufklärung sehen, keine unkritische Verherrlichung der Demokratie betreiben. Das ist gerade heute gefährlich in einer Zeit, in der autoritäre und freiheitsfeindliche Politiker weltweit Oberwasser haben. Von den Philippinen bis Polen, in Ungarn, Russland, Venezuela und der Türkei können sich Freiheitsverächter auf das Votum einer Mehrheit berufen. Sie berufen sich auf den Auftrag des Volkes bei ihrem Unterfangen, die Errungenschaften der Bürgergesellschaft zurückzudrängen.
Es ist an der Zeit, Demokratie neu zu denken
Der Demokratie gebührt Respekt. Die Freiheit verdient Leidenschaft. Nicht umgekehrt. Denn es waren oft nicht demokratische Entscheidungen, die zu einem Mehr an Freiheit geführt haben. Es war in den meisten Fällen der entschlossene und mutige Einsatz von einzelnen Personen, die diese Welt verbessert haben – oft gegen den Widerstand breiter Mehrheiten. Die Sklavenbefreier, die Sufragetten und die Homosexuellenaktivisten sahen sich solchen Mehrheiten gegenüber. Die Vordenker unserer heutigen Freiheit waren oft genug einsame Menschen auf verlorenem Posten: von Richard Cobden über Ludwig von Mises bis zu Kurt Tucholsky. Niemals hätten sie zu ihrer Zeit Mehrheiten für ihre Überzeugungen gewinnen können. Wir aber ernten heute, was sie gesät haben.
Es ist an der Zeit, Demokratie neu zu denken. Gerade angesichts der demokratisch zustande gekommenen und kommenden Bedrohungen der Freiheit. Ein guter Denkanstoß mag in dem stecken, wie der englische Historiker Lord Acton die athenische Demokratie beschrieb: „Indem Solon jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen machte, führte er das demokratische Element in den Staat ein.“ Demokratie bedeutet dann nicht mehr nur das reine Prozedere von Mehrheitsentscheidungen. Demokratie kann in diesem neuen Verständnis bedeuten, dass die Bereiche, in denen Menschen per Mehrheit über andere entscheiden, so weit wie möglich reduziert werden, damit jeder der Wächter seiner eigenen Interessen sein kann.
Und das sagen andere zum Thema:
Die abstrakte Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität vermehrt in nichts das Maß der Freiheit des Einzelnen, und wenn man dieser Souveränität einen Spielraum zuerkennt, den sie nicht haben sollte, kann die Freiheit diesem Prinzip zum Trotz oder sogar durch seine Einwirkung zugrunde gehen.
(Benjamin Constant, Grundprinzipien der Politik)Das wahre demokratische Prinzip, dass keiner über das Volk Macht haben soll, wird so ausgelegt, dass keiner imstande sein soll, dessen Macht zu beschränken oder zu entkommen. Das wahre demokratische Prinzip, dass das Volk nicht gezwungen werden soll, zu tun, was es nicht will, wird so ausgelegt, dass es niemals gezwungen werden sollte, zu tolerieren, was ihm nicht gefällt. Das wahre demokratische Prinzip, dass der freie Wille eines jeden Menschen so unbehindert wie möglich sein soll, wird so ausgelegt, dass der freie Wille des gesamten Volkes durch nichts aufgehalten werden soll.
(Lord Acton, Sir Erskine May’s Democracy in Europe)… er [Lord Acton] ist gegen die verhängnisvollste und gefährlichste von allen Fehlvorstellungen von Demokratie – gegen den Glauben, dass wir die Ansichten der Majorität als die richtigen und für die zukünftige Entwicklung bindenden annehmen müssen.
(Hayek, Wahrer und falscher Individualismus)Der dogmatische Demokrat erachtet es als wünschenswert, dass möglichst viele Fragen durch Mehrheitsbeschluss entschieden werden, während der Liberale meint, dass es für den Bereich der Fragen, die so entschieden werden sollen, bestimmte Grenzen gibt. … Der Zentralbegriff des doktrinären Demokraten ist der der Volkssouveränität. Das heißt für ihn, dass die Herrschaft der Mehrheit unbeschränkt und unbeschränkbar ist. Das Ideal der Demokratie, die ursprünglich alle willkürliche Gewalt verhindern sollte, wird damit zur Rechtfertigung für eine neue willkürliche Gewalt.
(Hayek, Verfassung der Freiheit)Die Idee der Allgewalt der Mehrheit ist … eine notwendige Folge der irrigen Ansicht, dass ein bestimmtes Verfahren zur Feststellung der Meinung der Mehrheit auf alle möglichen Fragen eine Antwort geben müsse, die wirklich die Meinung der Mehrheit widergibt. Dieser Irrtum hat zu dem merkwürdigen Glauben geführt, dass das bestehende demokratische Verfahren stets das gemeinsame Beste erzeuge, einfach, weil das gemeinsame Beste als das Ergebnis dieses bestimmten Entscheidungsverfahrens definiert ist.
(Hayek, Die Anschauungen der Mehrheit und die zeitgenössische Demokratie)Wenn man darauf beharrt, dass Demokratie unbeschränkte Regierung bedeutet, dann glaube ich nicht an die Demokratie.
(Hayek, Die Sprachverwirrung im politischen Denken)Wer das Prinzip der Demokratie in diesem Sinne akzeptiert, ist also nicht gezwungen, das Resultat einer demokratischen Abstimmung als einen autoritativen Ausdruck dessen anzusehen, was Recht ist. Er wird die Entscheidung der Majorität akzeptieren, um den demokratischen Institutionen die Arbeit zu ermöglichen. Es steht ihm aber frei, diese Entscheidung mit demokratischen Mitteln zu bekämpfen und auf ihre Revision hinzuarbeiten.
(Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde)