Photo: Wolfgang Sauber from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0) Die freie, offene und friedliche Welt, die uns so lieb ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Von außen wie von innen wird sie immer wieder bedroht. Deshalb ist es unerlässlich, dass wir bei allen inhaltlichen Differenzen auch immer wieder das Gemeinsame in den Blick nehmen, das uns diese Welt beschert hat. Im Schlingerkurs voran Der türkische Präsident teilt in altbekannter Sandkastenmanier gegen seinen französischen Amtskollegen – und NATO-Partner – aus, dessen Land zum Opfer massiver islamistischer Attacken wurde. Viele Europäer reiben sich die Augen angesichts der Ergebnisse der Präsidentenwahl in den USA, wo der Amtsinhaber im Vergleich zur letzten Wahl fast 7 Millionen Stimmen hinzugewinnen konnte, obwohl er regelmäßige
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Photo: Wolfgang Sauber from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
Die freie, offene und friedliche Welt, die uns so lieb ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Von außen wie von innen wird sie immer wieder bedroht. Deshalb ist es unerlässlich, dass wir bei allen inhaltlichen Differenzen auch immer wieder das Gemeinsame in den Blick nehmen, das uns diese Welt beschert hat.
Im Schlingerkurs voran
Der türkische Präsident teilt in altbekannter Sandkastenmanier gegen seinen französischen Amtskollegen – und NATO-Partner – aus, dessen Land zum Opfer massiver islamistischer Attacken wurde. Viele Europäer reiben sich die Augen angesichts der Ergebnisse der Präsidentenwahl in den USA, wo der Amtsinhaber im Vergleich zur letzten Wahl fast 7 Millionen Stimmen hinzugewinnen konnte, obwohl er regelmäßige grundlegendste Anstandsregeln missachtet. Doch es gibt auch ermutigende Signale: Führende Autokraten wie Xi und Putin verlieren in den meisten westlichen Ländern zunehmend an Vertrauen, obwohl nicht wenige politisch Verantwortliche und Wirtschaftskapitäne immer noch samtpfotig um die autokratischen Regime herumstreichen. Und trotz allem Gerangel und Getöse ist beiden Seiten bei den Brexit-Verhandlungen klar, dass man immer noch zusammengehört.
Es ist eines der Weltwunder der Moderne, dass sich die Völker Europas einschließlich ihrer jüngeren transatlantischen Geschwister nach zig Jahrhunderten der Auseinandersetzungen und Kriege zu einem friedlichen Miteinander zusammengefunden haben. Institutionen wie die NATO, die Europäische Gemeinschaft bzw. Union, die OECD oder G7 sind nicht etwa die Ursache, sondern das Ergebnis eines echten Wandels im Miteinander. Die Hoffnung, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch in Staaten wie Russland oder China den Siegeszug von Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Demokratie fortzusetzen, erfüllte sich ebenso wenig wie drei Jahrzehnte später die ähnliche Erwartungen beim Arabischen Frühling. Aber von Belarus über Hongkong bis Venezuela zeigt sich, dass die Sehnsucht danach noch sehr lebendig ist.
Ein Haus mit vielen Wohnungen
Populismus, religiöser Extremismus, Autoritarismus, Identitätspolitik – die Liste der Bedrohungen dessen, was man etwas verkürzt als „westliches Modell“ bezeichnen könnte, verlängert sich derzeit Jahr für Jahr. Und diese Bedrohungen sickern ein in Gesellschaften, die zuvor als verhältnismäßig stabil gelten konnten: Das lässt sich an der jüngsten Untersuchung zu Antisemitismus in der Labour Party ablesen; an der Tendenz von Mitte-Rechts-Parteien, etwa in Italien oder Frankreich, die Grenzen zu radikaleren Parteien zu verwischen; und natürlich an den zunehmenden Gewalteskalationen in den Vereinigten Staaten, von allen möglichen Seiten. Wie gut hält noch der „antitotalitäre Konsens“, der sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts in rasender Schnelle in vielen Gesellschaften verbreitet hatte und für die allermeisten Menschen selbstverständlich war und ist – von Itzehoe bis Izmir, von Osaka bis Omaha, von Christchurch bis Nazareth?
Die Geschichte hat gezeigt, dass es enorm viele politische und weltanschauliche Differenzen gibt, die einer Wertegemeinschaft nicht im Weg stehen müssen. Das kann schnell aus dem Blick geraten, wenn man sich in ein bestimmtes politisches Projekt besonders hineinsteigert, insbesondere bei identitätspolitischen Fragen: Ob es um die Verschärfung des Abtreibungsrechtes in Polen geht oder um den Kohleausstieg. Man kann schwerwiegende sachliche und moralische Argumente gegen diese Vorhaben haben und dennoch der anderen Seite zugestehen, sich auf demselben Boden zu bewegen. Leider sieht es momentan nicht danach aus. Um bei den beiden Beispielen zu bleiben: Die Protestierenden in Polen rechtfertigen ihre zunehmende Gewaltbereitschaft damit, dass der anderen Seite pauschal Faschismus unterstellt wird. Und wer hierzulande nicht überzeugt ist von den Träumen der woken Neohippie-Jugend, zeichnet eine drohende Öko-Diktatur an die Wand. So treibt man nicht nur gesellschaftliche Gruppen auseinander, sondern man trägt zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung bei, indem man diese Menschen den Radikalen und Extremisten in die Arme treibt.
Fundamentalistische Politik
Wie definiert sich diese (westliche) Wertegemeinschaft, die die Grundlage unserer Freiheit und unseres Wohlstands bildet? Historiker wie Heinrich August Winkler haben dieser Frage im Grunde genommen ihr ganzes Leben gewidmet … Ein paar Punkte wird man aber dennoch ohne zu viel Widerspruch festhalten können: Diese Wertegemeinschaft umfasst die Marktwirtschaft als Instrument der Selbstbestimmung, die Demokratie als Form der Konfliktlösung, den Rechtsstaat als Garant für Verlässlichkeit und Toleranz als Kultur der Klugheit wie der Großzügigkeit. Und diese Wertegemeinschaft hat auch viel zu tun mit der Antwort, die Karl Popper auf die Frage „Was glaubt der Westen?“ gab: „Es ist der Glaube an den Nebenmenschen und der Respekt vor dem Nebenmenschen, der unsere Zeit zur besten aller Zeiten macht“. Genau diese Haltung aber geht uns verloren in Debatten, in denen auch in den politischen Bereich der Fundamentalismus eindringt. Rechte Bürgermilizen und sich als Antifaschisten bezeichnende linke Randalierer folgen derselben Logik wie Islamisten: Sie verachten die pluralistische Zivilisation mit ihren langsamen Mühlen und Uneindeutigkeiten.
Die Wertegemeinschaft muss sich dagegen wehren. Je mehr ihre Gegner aufrüsten, umso fester muss sie auch zusammenstehen. Das bedeutet keinesfalls, den politischen Streit zu begraben. Nein, gerade wegen der fundamentalen Bedeutung von Pluralismus für diese Zivilisation muss der politische Wettstreit kontrovers und leidenschaftlich weitergehen: Ob es um Corona-Maßnahmen geht oder CO2-Reduktion, Lieferkettengesetze oder Steuerreformen, Straßenumbenennungen oder allgemeine Dienstpflicht. Und auch auf internationaler Ebene: in der NATO, in der EU, bei Klimaabkommen und bei der WHO. Aber es gilt, in der Wertegemeinschaft zusammenzustehen – von Australien bis Irland, von Israel bis Südkorea, von Chile bis zur Ukraine –, wenn Feinde dieser Werte auf den Plan treten. Vom Despoten aus Ankara über die Giftmischer der russischen Regierung bis zu den Mördern von Dresden, Nizza und Wien – ihnen allen muss klar sein, dass wir für unsere Werte einstehen und zusammenstehen. Und nicht nur ihnen, sondern besonders auch der jungen Frau aus Adana, dem Ladenbesitzer aus Nischni-Nowgorod und der Mutter in Duisburg-Marxloh.
Nur eine wehrhafte Wertegemeinschaft ist attraktiv
Die westliche Wertegemeinschaft hat eine beispiellose Attraktivität entwickelt. Es ist an uns, diese Attraktivität am Leben zu erhalten, indem wir uns zu ihren Werten aktiv bekennen. Wenn wir hingegen unsere internen Auseinandersetzungen so führen, dass einem schließlich ein Putin oder ein Maduro näher scheint als die Kontrahenten im Land, dann zerstören wir die Zivilisation von innen. Dann siegt die politische Agenda über prinzipielle Werte. Wenige Politiker haben diesen Punkt in den vergangenen Jahrzehnten so klar und überzeugend dargestellt wie der amerikanische Senator und Präsidentschaftskandidat John McCain in seiner letzten Rede im Senat ein Jahr vor seinem Tod. Diesem eindrucksvollen Menschen, der schon 2007 forderte, dass die Demokratien in der Welt enger zusammenrücken sollten, und der in seiner Rede zur Wahlniederlage ein leuchtendes Beispiel republikanischer Gesinnung offenbarte, sollen die letzten Worte gehören. So verabschiedete er sich aus seinem Dienst im Senat:
„Inkrementeller Fortschritt; Kompromisse, die jede Seite kritisiert, aber auch akzeptiert; sich einfach durchwursteln, um Probleme in den Griff zu bekommen und unsere Feinde davon abzuhalten, schlimmen Schaden anzurichten – all das ist weder glamourös noch aufregend. Es fühlt sich nicht an wie ein politischer Triumph. Aber in der Regel ist das alles, was wir von unserer Staatsform erwarten können, in einem so diversen, streitlustigen und freien Land wie dem unseren. […]
Ich hoffe, dass wir uns wieder auf Demut verlassen können; auf die Notwendigkeit, miteinander zu kooperieren; auf die Einsicht, dass wir aufeinander angewiesen sind, um wieder zu lernen, wie wir einander vertrauen können – um so den Menschen, die uns gewählt haben, wieder besser zu dienen. Hört nicht auf die aufgeblasenen Krakeeler im Radio, Fernsehen und Internet. Zur Hölle mit ihnen. Sie wollen nicht, dass etwas getan wird, um allen zu dienen. Unsere Unfähigkeit ist ihre Lebensgrundlage. […]
Könnten wir einem bedeutsameren Ziel dienen als dem, sicherzustellen, dass Amerika auch weiterhin das starke, dynamische und inspirierende Leuchtfeuer der Freiheit bleibt, Verteidigerin der Würde aller Menschen und von deren Recht auf Freiheit und Gerechtigkeit? Das ist das Ziel, das uns verbindet, und das so viel mächtiger und würdiger ist als die kleinen Unterschiede, die uns trennen.“