Christophe Bernard, Chefstratege von Vontobel. Mitte 1946 hielt Winston Churchill eine berühmte Rede in Zürich, in der er das vom Krieg zerrissene Europa aufforderte, aus der Asche aufzuerstehen. Sein Appell war möglicherweise der Vorbote für die Gründung der Europäischen Union. Er deutete jedoch an, dass das Vereinigte Königreich ausserhalb der entstehenden «Vereinigten Staaten von Europa » bleiben sollte – eine Prophezeiung, die merkwürdig treffend erscheint angesichts der jüngsten Brexit Entscheidung des Landes. Heute haben viele das Gefühl, dass Europa erneut an einem Wendepunkt in seiner Geschichte angelangt ist. Die bevorstehenden Aufgaben sind ganz andere als vor 70 Jahren, aber genauso anspruchsvoll, sagt Vontobel-Chefstratege Christophe Bernard. Die zahlreichen Herausforderungen, vor denen Europa steht, ergeben ein düsteres Bild. Das schwache Wachstum, die hohe Verschuldung und die strukturellen Unterschiede zwischen den europäischen Kernländern und der sogenannten Peripherie sind beängstigend genug. Diese Probleme werden noch verstärkt durch die Entscheidung der britischen Bevölkerung, die Europäische Union zu verlassen, und den Aufstieg populistischer, anti-europäischer Kräfte in der Politik. Diese Entwicklung ist zweifellos eine Bedrohung für das europäische Projekt.
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Mitte 1946 hielt Winston Churchill eine berühmte Rede in Zürich, in der er das vom Krieg zerrissene Europa aufforderte, aus der Asche aufzuerstehen. Sein Appell war möglicherweise der Vorbote für die Gründung der Europäischen Union. Er deutete jedoch an, dass das Vereinigte Königreich ausserhalb der entstehenden «Vereinigten Staaten von Europa » bleiben sollte – eine Prophezeiung, die merkwürdig treffend erscheint angesichts der jüngsten Brexit Entscheidung des Landes. Heute haben viele das Gefühl, dass Europa erneut an einem Wendepunkt in seiner Geschichte angelangt ist. Die bevorstehenden Aufgaben sind ganz andere als vor 70 Jahren, aber genauso anspruchsvoll, sagt Vontobel-Chefstratege Christophe Bernard.
Die zahlreichen Herausforderungen, vor denen Europa steht, ergeben ein düsteres Bild. Das schwache Wachstum, die hohe Verschuldung und die strukturellen Unterschiede zwischen den europäischen Kernländern und der sogenannten Peripherie sind beängstigend genug. Diese Probleme werden noch verstärkt durch die Entscheidung der britischen Bevölkerung, die Europäische Union zu verlassen, und den Aufstieg populistischer, anti-europäischer Kräfte in der Politik. Diese Entwicklung ist zweifellos eine Bedrohung für das europäische Projekt.
Fangen wir mit der politischen Lage an. Der Aufstieg der populistischen Parteien auf dem gesamten Kontinent (die Alternative für Deutschland in Deutschland oder der Front National in Frankreich, um nur einige zu nennen) oder ihre Machtübernahme in Ungarn, Polen und Griechenland haben einen gemeinsamen Nenner. Egal, ob sie rechts oder links ausgerichtet sind: Alle sind sie gegen Brüssel. Die europäischen Institutionen werden als undemokratisch wahrgenommen und stehen unter dem Verdacht, einen zügellosen Kapitalismus zu fördern und die Migrations- und Sicherheitsprobleme nicht in den Griff zu bekommen. Das Aufkommen des Populismus ist jedoch nicht auf Europa beschränkt, wie die Präsidentschaftswahl in den USA gerade gezeigt hat. Populisten haben im Allgemeinen eine binäre Sicht der Dinge und unterscheiden zwischen dem "wahren Volk" – das Wort "Populismus" leitet sich ab von dem lateinischen Wort "populus" (das Volk) – und "dem Rest", wobei dieser Begriff für kosmopolitische, supranationale und oftmals stillschweigende Unterstützer einer liberalen Weltordnung steht.
Es fehlt ein einheitsstiftender europäischer "Traum"
Die Gründe hierfür sind auf allen Ebenen zu finden, von der supranationalen bis hin zur individuellen. Zunächst fehlt dem europäischen Projekt ein "Traum", ein Ziel. Das Argument, dass es seit 1945 zum Frieden beigetragen habe, scheint heute kaum mehr ins Gewicht zu fallen. Der "Abstieg" Frankreichs als Alter Ego in der deutsch-französischen Achse verschafft Deutschland zu viel Gewicht. Das Land will aber aufgrund seiner Geschichte nur widerstrebend eine Führungsrolle einnehmen. Zweitens: Da die Mitglieder der Europäischen Kommission nicht gewählt werden, wird ihre demokratische Glaubwürdigkeit infrage gestellt. Vielen europäischen Bürokraten in hohen Positionen fehlt es an Ausstrahlungskraft oder einer emotionalen Dimension, die populistische Politiker zweifellos besitzen. Und schliesslich ist der Aufstieg starker Männer wie Vladimir Putin, Xi Jinping, Recep Tayyip Erdogan oder Donald Trump, von denen die meisten Europa eine strukturelle Schwäche bescheinigen, auch nicht gerade hilfreich.
Populistische Parteien haben jedoch noch einen langen Weg vor sich. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass beispielsweise Marine Le Pen vom Front National als Siegerin aus der Präsidentschaftswahl in Frankreich hervorgeht. In Deutschland wird die etablierte politische Ordnung höchstwahrscheinlich bestehen bleiben. Angela Merkel scheint sich im kommenden Herbst halten zu können, wenn auch möglicherweise nur in einer Grossen Koalition, die einen klaren Kurs behindert. In Italien ist es alles andere als sicher, dass der Partito Democratico (PD) des früheren Ministerpräsidenten Matteo Renzi gegenüber der Protestpartei Movimento Cinque Stelle bei vorgezogenen Wahlen das Nachsehen hätte. Der wahrscheinlichste Ausgang ist eine Koalition zwischen der PD und der Partei des früheren Premiers Silvio Berlusconi. In den Niederlanden werden Populisten aller Wahrscheinlichkeit Wähleranteile gewinnen, und die Partei von Geert Wilders hat gute Aussichten, bei der Parlamentswahl die meisten Stimmen auf sich zu vereinen. Er wird aber voraussichtlich nicht genug Unterstützung von den etablierten politischen Parteien erhalten, um die Macht übernehmen zu können.
Die Lage ist nicht so düster wie es scheint
Ungeachtet der politischen Landschaft scheint die wirtschaftliche Lage besser zu sein als allgemein angenommen. Bis jetzt hatte die vom Brexit ausgelöste Unsicherheit keine Auswirkungen auf die Wirtschaft. Für 2017 wird wieder ein Wachstum von rund 1.5 Prozent erwartet. Es gibt jedoch nach wie vor grosse Herausforderungen. Die Kreditvergabe in Europa hat immer noch nicht angezogen. Hauptgrund hierfür ist die unvollendete Bankenunion. Ausserdem stehen hinter der Kapitalstärke der Banken, insbesondere der italienischen, weiterhin grosse Fragezeichen. Derzeit findet ein stiller "Bank Run" – Kapitalströme von Süd- nach Nordeuropa, vor allem nach Deutschland – statt, der Ausdruck eines allgemeinen Vertrauensverlusts in die sogenannten Peripherieländer der Eurozone ist. Eine solche Situation kann der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht gefallen. Zu guter Letzt treten die Aktienmärkte der Eurozone seit 2007 auf der Stelle, weil die Unternehmensgewinne – im Gegensatz zur Entwicklung in den USA – nach wie vor weit unter den Höchstständen der Jahre 2007 und 2008 liegen. Sie könnten sich jedoch bald erholen. Günstige Faktoren sind unter anderem ein Anstieg der Inflation, ein stärkeres globales Wachstum und eine Erholung der Ertragskraft von gebeutelten Sektoren wie Banken und Energie. Hinzu kommen der schwache Euro und die extrem expansive EZB, von der Vontobel erwartet, dass sie die erste Leitzinserhöhung erst Mitte 2019 vornimmt. Das könnte nach Ansicht von Chefstratege Christophe Bernard ein zweistelliges Gewinnwachstum (gemessen am Gewinn je Aktie) über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren ermöglichen. Fazit: Angesichts der politischen Unsicherheiten und der nach wie vor unbefriedigenden Unternehmensgewinne ist es nicht verwunderlich, dass globale Anleger in Europa – insbesondere in der Eurozone – "untergewichtet" sind. Ein überbordender Pessimismus kann jedoch ein Kaufsignal sein, da niedrige Erwartungen leicht übertroffen werden können. Vielleicht ist die Eurozone der Überraschungsmarkt in diesem Jahr.