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Zurück aufs Fahrrad

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In China gibt es keine Nischenmärkte. Die Zahl der Konsumenten ist von Anfang an so gross, dass genügend Investitionskapital vorhanden ist, um sofort erstklassige Dienstleistungen anbieten zu können. Der Fahrradwahn in Schanghai ist eines der jüngsten Beispiele dafür. Per App können in Schanghai – und allen anderen wichtigeren Städten Chinas – schnell und einfach Fahrräder gemietet werden. Bild: Elisabeth Tester 620 000. Das ist für Schanghai keine speziell grosse Zahl. Offiziell leben 24 Millionen Personen in der Metropole am ostchinesischen Meer, es gibt in Schanghai mehr als zehn Millionen Überwachungskameras und rund fünf Millionen in der Stadt registrierte Personenautos. Aber dennoch, die 620 000 Mietvelos, die zurzeit Schanghais Strassen beleben, sind ein stadtweites

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In China gibt es keine Nischenmärkte. Die Zahl der Konsumenten ist von Anfang an so gross, dass genügend Investitionskapital vorhanden ist, um sofort erstklassige Dienstleistungen anbieten zu können. Der Fahrradwahn in Schanghai ist eines der jüngsten Beispiele dafür.

Zurück aufs Fahrrad

Per App können in Schanghai – und allen anderen wichtigeren Städten Chinas – schnell und einfach Fahrräder gemietet werden. Bild: Elisabeth Tester

620 000. Das ist für Schanghai keine speziell grosse Zahl. Offiziell leben 24 Millionen Personen in der Metropole am ostchinesischen Meer, es gibt in Schanghai mehr als zehn Millionen Überwachungskameras und rund fünf Millionen in der Stadt registrierte Personenautos. Aber dennoch, die 620 000 Mietvelos, die zurzeit Schanghais Strassen beleben, sind ein stadtweites Thema. Denn sie tauchten quasi über Nacht auf und haben die Lebensgewohnheiten vieler Menschen verändert. Und sie sind ein Beispiel dafür, was in Chinas Wirtschaft abgehen kann.

Als ich 1986 zum ersten Mal China bereiste, prägten Fahrräder das Strassenbild aller chinesischen Städte. Auf dem Tiananmen-Platz in Peking – der damals noch nicht von einer Hauptstrasse und unzähligen Absperrungen unterteilt war – tummelten sich allein geschätzte 100 000 Fahrräder. Doch das ist Geschichte. Die Verbreitung  elektrischer Roller und Autos, sowie der massive Ausbau des öffentlichen Verkehrs, haben Velos sukzessive an die Randexistenz der Fahrbahnen gedrängt. Als Fahrräder und öffentliche Busse die einzigen weitverbreiteten Transportmittel waren, war der Arbeitsweg notwendigerweise kurz.

Doch die Urbanisierung und das enorme Wachstum der Städte hat die Arbeitswege enorm anwachsen lassen. Das über 500 km lange U-Bahn-Netz Schanghais, das eigentlich erst ab dem Jahr 2000 massiv ausgebaut wurde, hat unter anderem dazu geführt, dass Arbeitswege quer durch die ganze Metropole an der Tagesordnung sind. So weit so gut. Nur ist das U-Bahn-Netz relativ weitmaschig, Fusswege von 20 Minuten und mehr von der nächsten Station zum Arbeitsplatz sind keine Seltenheit. Die Lösung? Mietvelos, um die «letzte Meile» effizient zurücklegen zu können.

Rasante Entwicklung neuer Geschäftsmodelle

Im Sommer 2016 begann also die Firma Mobike in grossem Stil Fahrräder aufzustellen, die jeder benutzen kann, der sich auf der entsprechenden Mobiltelefon-App anmeldet. Er muss nur die rückerstattbare Depotgebühr von rund 45 Franken bezahlen, die Fahrradnummer in der App eingeben und mit dem erhaltenen Code das Schloss öffnen. Die Nutzerregistrierung, inklusive Foto und Identitätskarte, erfolgt selbstredend papierlos. Und niemand kommt auf die Idee, einen Datenschutzbeauftragten anzurufen, obwohl Mobike’s Räder ein GPS-Ortungsgerät haben und somit die Bewegungen der Nutzer nachverfolgt werden können. Kostenpunkt: 1 Yuan pro halbe Stunde, also für die zwei Fahrten von der U-Bahn-Station zum Arbeitsplatz und zurück etwa 30 Rappen.

Selbstverständlich kann nur mobil mit Alipay oder WeChatPay bezahlt werden, das ganze Geschäft wird an den traditionellen Banken vorbei abgewickelt. Die Velos können irgendwo in den für Zweiräder gekennzeichneten Parkfeldern abgestellt werden. Mittlerweile bieten in Schanghai sechs Unternehmen Mieträder an – in verschiedenen Farben, einige mit Luftpneus, einige mit gelöcherten Hartgummipneus, die meisten ohne, einige aber auch mit Batterie.

Nun ist das Erscheinen von Mieträdern keine revolutionäre Entwicklung, die zentrale Herausforderungen der chinesischen Volkswirtschafthttps://www.iconomix.ch/de/service/glossar/details/detail/default/volkswirtschaft/ löst. Interessant sind aber dennoch vor allem zwei Aspekte. Erstens entwickelte sich dieses Geschäftsfeld rasant, papierlos und ohne direkte Einbindung traditioneller Wirtschaftsakteure wie der Geschäftsbanken. In einem Jahr von Null auf mehr als eine halbe Million Mieträder – das ist einmal mehr ein Beispiel dafür, wie schnell sich neue Geschäftsmodelle in China ausbreiten können. Basierend auf der durchdigitalisierten jüngeren Generation, für die das bargeldlose Bezahlen auf Nicht-Banken-Plattformen eine Selbstverständlichkeit ist, fand das Geschäftsmodell schnell Anklang.

Glaubt man den Anbietern, sind bereits viele Millionen Nutzer bei den verschiedenen Unternehmen in Schanghai registriert. Die Mietunternehmen sprechen von zweistelligen Millionenzahlen von Mieträdern, die sie in nächster Zukunft auf die Strassen der grossen Städte stellen wollen. Einmal mehr: In China gibt es keine Nischenmärkte. Auch neue Ideen am Rande der wirtschaftlichen Kernmärkte sind gross und finden von Beginn weg genügend Investitionskapital, um eine erstklassige Dienstleistung anbieten zu können.

Und immer Alibaba 

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Einige Fahrräder landen im Fluss. Bild: wikimediaZurück aufs Fahrradhttps://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ofo_bike_in_a_lake_-_01.jpg – Anna Frodesika (CCZurück aufs Fahrradhttps://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/)

Zweitens zieht das «Phänomen Mieträder» bereits Folgedienstleistungen nach sich. Am Wochenende sind die Mietvelos wegen der starken Konkurrenz häufig gratis verfügbar. Sesame Credit, der Kreditwürdigkeitsprüfungs-Arm des E-Commerce Giganten Alibaba, ist eine Kooperation mit dem Unternehmen ofo eingegangen. Da Sesame Credit seit Jahren die Transaktionsdaten seiner Kunden sammelt, hat das Unternehmen einen sehr guten Einblick in ihre Zahlungsgewohnheiten. Auf dieser Basis wird ein Mass für die Kreditwürdigkeit der Kunden errechnet: Wer eine bestimmte Schwelle der Kreditwürdigkeit überschreitet, muss neuerdings keine Depotgebühr für die ofo-Mieträder mehr bezahlen, sondern kann sich depotfrei die Fahrräder borgen.

Doch auch in China gibt es kein neues Geschäftsfeld ohne heftige Diskussionen. Nicht alle Räder werden korrekt abgestellt, einige werden gestohlen oder in einen Fluss geworfen, und es gibt Pannen. Zudem stören sich viele Passanten daran, dass sie auf den Trottoirs kaum noch Platz finden. Aufsichtsgremien wollen die Qualität der angebotenen Mietvelos sicherstellen, unter anderem mit einer vorgeschriebenen Mindestanzahl von Mechanikern pro 1000 Rädern, und mit der Vorschrift, dass Radfahrer mit einer Körpergrössen von 145 bis 195 cm bedient werden müssen.

Wie dieses technologische Kunststück gemeistert werden soll, fragt sich manch grossgewachsener Bewohner Schanghais. Aber immerhin: Neuerungen werden extrem schnell umgesetzt und von den Konsumenten akzeptiert, sie haben stark lokale Ausprägungen inklusive vollkommen papierloser Registrierung und Bezahlung und führen zu intensivstem Wettbewerb. Ich bleibe dran respektive auf dem Fahrrad.

PS: Mobike hat am 16. Juni 2017 bekannt gegeben, in der jüngsten Finanzierungsrunde unter der Führung des Internetgiganten Tencent 600 Mio. Dollar eingesammelt zu haben; ofo konnte im Mai 450 Mio. Dollar von Investoren aufnehmen.

Elisabeth Tester,
Ökonomin, Autorin
Ehem. Chinakorrespondentin von «Finanz und Wirtschaft», Wirtschaftspublizistin «From facts to stories», lebt in Schanghai und Zürich. Spezialistin China, makroökonomische Themen und Rohstoffe.

Dies ist ein Gastbeitrag. Inhaltlich verantwortlich ist der jeweilige Autor, die jeweilige Autorin.

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