BuchbesprechungMoritz Schularick: Der entzauberte Staat – Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss, C.H.Beck, Juli 2021, München.In Krisen zeigt sich, wie Staat und Gesellschaft mit unerwarteten Situationen umgehen, schreibt Moritz Schularick in seinem neuen Buch, welches aus einer Reihe von Vorträgen, Zeitungsbeiträgen und Interviews zur Corona-Pandemie entstanden ist.In der Tat sah der Staat in der ...
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Buchbesprechung
Moritz Schularick: Der entzauberte Staat – Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss, C.H.Beck, Juli 2021, München.
In Krisen zeigt sich, wie Staat und Gesellschaft mit unerwarteten Situationen umgehen, schreibt Moritz Schularick in seinem neuen Buch, welches aus einer Reihe von Vorträgen, Zeitungsbeiträgen und Interviews zur Corona-Pandemie entstanden ist.
In der Tat sah der Staat in der Pandemie operativ nicht gut aus. Es mangelte an Testzentren, Computern und Software. Dem Staat fehlte auch an Wissensinfrastruktur in Form von Daten und Institutionen, die für einen geordneten Austausch zwischen Politik und Wissenschaft notwendig gewesen wären.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Staat sich in der Risikogesellschaft in einer neuen, komplexen Rolle als Risikomanager wiedergefunden hat.
Der Begriff «Risikogesellschaft» wurde vom Soziologen Ulrich Beck geprägt. Beschrieben werden damit moderne Gesellschaften, die im Zug des ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritts zunehmend Risiken produzieren: Umweltverschmutzung, Erderwärmung, industrielle Risiken wie in Tschernobyl.
Die moderne Welt ist dadurch gekennzeichnet, dass als Nebenprodukte des Fortschritts neue Risiken entstehen.
In der Pandemie waren alle Menschen auf den Staat angewiesen. Der Sozialstaat war zwar eine grosse Stütze. Aber der deutsche Staat war für seine Rolle als Risikomanager schlecht gerüstet.
Die Pandemie hat damit die Schwächen für alle sichtbar blossgestellt: Modernisierung und Investitionen blieben aus. Warum? Hier rückt insbesondere die Politik der «schwarzen Null» und der «Schuldenbremse» in den Fokus.
Die «Schuldenbremse» zwingt den Staat zwar nicht dazu, Investitionen in Digitalisierung und Modernisierung der Verwaltung zu vernachlässigen. Aber sie zwingt ihn, derartige Ausgaben aus den laufenden Steuereinnahmen statt mit Schulden zu finanzieren.
Bürgerliche Eigenverantwortung und das gesunde Eigeninteresse sind kein Patentrezept. Wir brauchen in solchen Situationen staatliche Steuerung, wie der Autor unterstreicht.
Was in Sachen «Schuldenbremse» nicht übersehen werden darf, ist, dass der Investitionsbedarf über die Zeit nicht stabil ist. Denken wir dabei an den digitalen Strukturwandel und Klimaschutz. Die Ausgaben hätten steigen müssen. Auf dem gleichen Niveau zu bleiben, war nicht genug.
Der vermeintliche Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit war ein Mythos, der viel Zeit, Geld und Menschenleben gekostet hat.
Das mentale Framing der Spar- oder Austeritätspolitik, die sich während der Eurokrise als vollkommen kontraproduktiv erwiesen hat, ist auch während der COVID-19 Krise im Weg gestanden, zum Beispiel die Impfstoffproduktion zu beschleunigen und für schnellere Lieferungen zu sorgen.
Mit öffentlichen Mitteln hätte in Marburg neben BioNTech eine zweite Produktionslinie aufgebaut werden können. Doch die Frage nach Handlungsoptionen des Staates in Krisensituationen hat sich nicht einmal gestellt.
Der Staat hat die Aufgabe, Investitionen anzustossen. Der Autor erinnert daran, dass wachsende Staatskapazität eine der wichtigsten Voraussetzungen für die industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts war. Die industrielle Revolution fand nicht gegen den Staat, sondern mit ihm statt.
Wir brauchen einen Mentalitätswandel im Umgang mit Risiken. Die «resilient society» erfordert, dass der Staat Risiken übernimmt, um für die Allgemeinheit das beste herauszuholen. Zur neuen notwendigen Geisteshaltung gehört, dass wir die ritualisierten Kulturkämpfe um die «Schuldenbremse» hinter uns lassen.
Politik und Wissenschaft müssen in Zukunft enger zusammenarbeiten.
Im Übrigen geht der Begriff «Entzauberung» auf den Soziologen Max Weber zurück. Er benutzte ihn, um zu beschreiben, dass der Einfluss der kultischen oder religiöser Welterklärungen zurückging und rationale Mechanismen zur Grundlage von Denken und Handeln wurden.
Es trifft daher zu, zu bekräftigen, dass der Staat in der Pandemie entzaubert wurde, wenn wir v.a. an die zweite Bedeutung «Relativierung» und «Desillusionierung» denken.
Es geht nicht um mehr oder weniger Staat, sondern um einen stärkeren und kompetenteren Staat mit einer leistungsfähigen Verwaltung und einer besseren Verzahnung von Wissenschaft und Politik.
Vater Staat braucht ein Upgrade.
Eine Pflichtlektüre zur Allgemeinbildung.