Angesichts des jüngsten Skandals bei VW, aber auch vor dem Hintergrund einer längeren Liste weiterer unternehmerischer Betrügereien der letzten Jahre, schwindet das Vertrauen in die moralische Integrität der "Wirtschaft". Dieser Beitrag fordert, dass moralisches Handeln "organisiert" werden muss. Letztlich trägt jeder einzelne eine Verantwortung. Die Manipulation der Abgaswerte von Volkswagen wird in den öffentlichen Medien ebenso wie in der Bevölkerung flächendeckend mit Kopfschütteln diskutiert. Viele fragen sich: Wie kann man nur? Welches fehlgeleitete Kalkül veranlasst ein Unternehmen, vorsätzlich zu betrügen? Die Schwierigkeiten mit der Moral bei Volkswagen ist leider nur eines von einer Vielzahl von Beispielen für unternehmerische Betrügereien in der jüngeren Vergangenheit: die Deutsche Bank manipuliert den Libor-Index, in der FIFA erfolgt die Vergabe von Weltmeisterschaften und Werbeverträge durch systematische Bestechungen, bei Siemens und Daimler gehörte es über viele Jahre zur gängigen Praxis, sich bei Auftragsvergaben Vorteile durch "Beschleunigungszahlungen" zu verschaffen, Schweizer Banken unterstützen ihre Kunden aktiv beim Verstecken steuerpflichtiger Gelder, und Pharmaunternehmen manipulieren empirische Studien zum Nachweis der Wirksamkeit ihrer Wirkstoffe. Die Liste ist lang und könnte ohne Probleme erweitert werden.
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Angesichts des jüngsten Skandals bei VW, aber auch vor dem Hintergrund einer längeren Liste weiterer unternehmerischer Betrügereien der letzten Jahre, schwindet das Vertrauen in die moralische Integrität der "Wirtschaft". Dieser Beitrag fordert, dass moralisches Handeln "organisiert" werden muss. Letztlich trägt jeder einzelne eine Verantwortung.
Die Manipulation der Abgaswerte von Volkswagen wird in den öffentlichen Medien ebenso wie in der Bevölkerung flächendeckend mit Kopfschütteln diskutiert. Viele fragen sich: Wie kann man nur? Welches fehlgeleitete Kalkül veranlasst ein Unternehmen, vorsätzlich zu betrügen?
Die Schwierigkeiten mit der Moral bei Volkswagen ist leider nur eines von einer Vielzahl von Beispielen für unternehmerische Betrügereien in der jüngeren Vergangenheit: die Deutsche Bank manipuliert den Libor-Index, in der FIFA erfolgt die Vergabe von Weltmeisterschaften und Werbeverträge durch systematische Bestechungen, bei Siemens und Daimler gehörte es über viele Jahre zur gängigen Praxis, sich bei Auftragsvergaben Vorteile durch "Beschleunigungszahlungen" zu verschaffen, Schweizer Banken unterstützen ihre Kunden aktiv beim Verstecken steuerpflichtiger Gelder, und Pharmaunternehmen manipulieren empirische Studien zum Nachweis der Wirksamkeit ihrer Wirkstoffe. Die Liste ist lang und könnte ohne Probleme erweitert werden.
Um was es bei diesen Praktiken geht, dürfte jedem klar sein: Es sind Gewinn- und Wachstumsinteressen, die Unternehmen nicht davor abschrecken, sich über gesellschaftliche Moralvorstellungen und teilweise auch über rechtliche Vorschriften hinwegzusetzen. Unternehmen sind anscheinend rationale Akteure und man dürfte sich deshalb eben nicht wundern: the business of business is business. Wir wundern uns dennoch und wollen fragen: Ist es wirklich rational, was wir in der Unternehmenspraxis in dieser Hinsicht beobachten können, und in welchem Sinne?
Rational betrügen?
Unternehmen planen strategische Entscheidungen sehr sorgfältig. Sie fertigen Untersuchungen und sogenannte SWOT-Analysen an, die über die Chancen und Risiken unternehmerischer Entscheidungen informieren. Dies beinhaltet auch die Risiken von Rechtsübertretungen und dem Verstoß gegen den moralischen Common Sense. Welcher Reputationsverlust wäre damit verbunden, welche Strafzahlungen sind zu erwarten, welche Konsequenzen für den Aktienkurs sind zu prognostizieren? Wir müssen davon ausgehen, dass die Informationen, die Journalisten in wenigen Tagen über Expertenbefragungen recherchiert haben, in ähnlicher Form dem Volkswagen Konzern vorlagen.
Wenn wir annehmen, dass Unternehmen die Risiken der getroffenen Maßnahme kennen, stellt sich die Fragen nach der Rationalität bewusster Täuschungen. Wie könnte eine solche Rechnung aufgehen? Hier gibt es prinzipiell zwei zusammenhängende Möglichkeiten:
Erstens, man ist sich über die finanziellen Risiken im Klaren und hat diese als potentielle Kosten berücksichtigt. Da der erwartete Ertrag die potentiellen Kosten übersteigen, entscheidet sich ein Unternehmen für den Betrug – auch wenn man damit gegen geltendes Gesetz oder eine Moral verstößt. Bei Entscheidungen unter Unsicherheit können sich Investitionsprojekte eben rentieren oder nicht. Recht und Moral sind in diesem Fall nicht etwas an das man sich "unbedingt" hält, sondern eine von vielen Kontextfaktoren, denen keine hervorgehobene Bedeutung zukommt. Dies erstreckt sich aber auf weite Kreise der Bevölkerung. In einer Gesellschaft, in der Steuerhinterziehung ein Kavaliersdelikt ist, in der die Strafe für Geschwindigkeitsübertretungen und falsches Parken als Preiszuschlag wahrgenommen wird, in der niemand auch nur auf die Idee kommt, die Botschaften der Werbeindustrie seien ernst zu nehmen, ist es kein Wunder, dass Tugenden wie Anstand, Ehrlichkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit eine strategische Größe werden, derer man sich situativ bedienen kann oder auch nicht. Sie sind nicht mehr fester, verinnerlichter Bestandteil einer Persönlichkeit, sondern höchstens noch beliebiges Mittel zur Erreichung egoistischer Ziele, eingefordert insbesondere bei allen anderen.
Aber so kann eine Gesellschaft auf Dauer nicht funktionieren. Eine Gesellschaft, die jedes Problem durch institutionelle Regelungen lösen will, verwandelt sich nach und nach in einen Kontrollstaat und schafft es am Ende doch nicht, die Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Dabei ist die Vorstellung, Verantwortung systematisch an Institutionen abzugeben, fester Teil der westlichen Denktradition der Neuzeit. Anders als bei Aristoteles, der den guten Staat noch dadurch ausgezeichnet sah, dass er den Bürgern dabei hilft, gut zu werden, hat sich seit Niccolò Machiavelli im westlichen Denken ein anderes Verständnis durchgesetzt: Der Mensch ist unverbesserlich schlecht, und der gute Staat ist derjenige, der sein Handeln trotzdem als gut erscheinen lässt. Die anthropologischen Prämissen dieser Menschenbilder sind nie wirklich bestätigt oder verworfen worden, und doch hat sich die zweite Sicht über Thomas Hobbes bis in die moderne Ökonomik und andere Sozialwissenschaften durchgesetzt. Es sei nun einmal so, dass der Mensch seinen Eigeninteressen folgt, und somit liegt die gesamte Verantwortung für eine gelingende Gesellschaft auf der Regelebene des Staates. Aber umgekehrt: Welch eine moralische Entlastung für den Einzelnen!
Individuelle Geschichten und kulturelle Narrative
Auch bei der zweiten Möglichkeit dominiert ein gesellschaftlich eingebettetes Kalkül, das hier jedoch durch einen Machbarkeitsethos ergänzt wird. Besonders charakteristisch dafür ist die Abwesenheit eines Unrechtsverständnisses der Akteure. Vielmehr wird das eigene Handeln entweder innerhalb der engen Zweckrationalität des eigenen Tuns gesehen und dabei andere legitime Rationalitäten und Bedürfnisse ausgeblendet. Innerhalb dieser Rationalitäten beherrscht man sein Metier – technisch und damit auch gesellschaftlich: "Vorsprung durch Technik".
Moralische Probleme werden gar nicht als solche wahrgenommen. Oder man sieht sich in einer solch privilegierten Position, dass man nicht nur wirtschaftlich sondern auch moralisch in einer anderen Liga spielt und somit den Spielregeln der "Anderen" nicht unterliegt. Diese beiden Phänomene machen erklärbar, warum viele Manager so offensichtlich nicht in der Lage sind zu verstehen, was genau sie falsch gemacht haben sollen. Die Äußerung des ehemaligen CEO von BP, Tim Hayward, nach der Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko 2010, er wolle einfach nur sein altes Leben zurück, ist ein gutes Beispiel für das tiefe Unverständnis hinsichtlich der gesellschaftlichen Tragweite des eigenen Handelns und der Unfähigkeit, außerhalb der engen Grenzen der eigenen Rationalität zu denken.
Die meisten Menschen sind fest davon überzeugt, dass sie das Richtige tun, auch im moralischen Sinne. Sie unterscheiden sich nur in der Beurteilung, was das Richtige ist. Wie dies möglich ist, wird durch die psychologische Forschung und experimentelle Ethikforschung der letzten Jahre immer klarer: Menschen bauen sich um ihr Handeln Geschichten, die es für sie selbst erklärbar und rechtfertigbar macht. Dabei geht es nicht primär um Wahrhaftigkeit, sondern um die Stabilisierung des eigenen Handelns. Ein nach allgemeinem Verständnis ethisch fragwürdiges Verhalten wird dabei umso einfacher rechtfertigbar, je besser es in die größeren kulturellen Narrative einer Gesellschaft passt. Jahrzehnte einer ideologischen Interpretation der Idee, dass sich in einer Marktwirtschaft Eigeninteresse automatisch in Gemeinwohl übersetzt, war hierbei sicherlich nicht störend, um es vorsichtig auszudrücken. Genauso wenig störend war die komplementäre Ideologie, dass die einzige Pflicht des Unternehmens die Gewinnerzielung sei. (Aber selbst Milton Friedman, auf den diese Doktrin zurückgeht, hatte ein dezidiert moralisches Bild des Gewinn erzielenden Unternehmers im Kopf, denn er forderte explizit ein, dass er sich dabei innerhalb der Spielregeln zu bewegen habe, "ohne Täuschung und Betrug"). In einem solchen kulturellen Milieu fällt es nicht schwer, sich der Versuchung hinzugeben, dass eigene Verhalten entweder jenseits von moralischen Kategorien oder als moralisch geboten wahrzunehmen.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es möglicherweise kein Zufall, dass die jüngsten Vorfälle bei Volkswagen in einem technisch-ingenieurswissenschaftlichen Produktionszweig vorgefallen sind. Ein technisch-ökonomisches Denken nur auf technik-affine Unternehmen und Branchen zu reduzieren, ist jedoch verkürzt. Die auch heute noch dominant an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten vermittelten Inhalte speisen sich – in der Volks- wie in der Betriebswirtschaftslehre – aus einem den Naturwissenschaften nahen Denken. Da werden Gleichgewichtspunkte zwischen Angebot und Nachfrage errechnet und in Unternehmen Hebel umgelegt und an Schrauben gedreht, damit "die Sache funktioniert". Schwierigkeiten mit der Moral gibt es im Grunde erst einmal gar nicht, da sie in diesem Denken nicht wirklich relevant ist. In fortschrittlicheren Ansätzen ist Moral ein Produktionsfaktor – mehr geht nicht.
Die "Infektanfälligkeit" des ökonomischen Systems
Die Angelegenheit ist ernst, denn was wir hier beobachten können ist, dass sich Unternehmen durch arglistige Täuschungen außerhalb von demokratischen Ordnungen stellen und diese durch ihre Praktiken unterminieren. Man meint sich nicht an Gesetz und Ordnung halten zu müssen, von einer Konformität mit moralischen Standards ganz zu schweigen. Das ist schon schlimm genug, doch die Betrügereien bekommen noch eine zynische Pointe, wenn man sich die von den betreffenden Unternehmen kommunizierten Unternehmensvisionen und -missionen liest, in denen man sich als Corporate Citizen (das Unternehmen als Bürger, als Citoyen) zum Zwecke einer guten Gesellschaft beschreiben. Kultur und Charakter zeigen sich im Verhalten, nicht in Hochglanzprospekten, aber der indirekte Schaden ist angerichtet: Die hier behaupteten Tugenden sind unglaubwürdig, was die Vertrauenskrise noch verschärft.
Man könnte nun argumentieren, dass die Situation halb so schlimm sei, weil das gesellschaftliche "Immunsystem" ja funktioniere. Wenn auch verspätet, kommt der Schwindel ans Tageslicht, und mit der Ungewissheit über die Konsequenzen für Volkswagen als Konzern und einige der Manager ist auch der Fortbestand des Unternehmens ungewiss. Hiervon geht zweifellos eine disziplinierende Wirkung für andere Unternehmen aus. Und das Immunsystem einer modernen Gesellschaft besitzt ja viele Abwehrmechanismen: staatliche Regulierungen, Haftungs- und Strafrecht, und auch die Reaktionen von Kunden und Anlegern im Falle eines Skandals. Und wie auch in biologischen Organismen verhindert das Immunsystem nicht alle Krankheiten, so dass man mit einem grippalen Infekt hier und da einfach leben muss.
Allerdings muss man schon die Frage stellen, ob die in den letzten Jahren feststellbare Infektanfälligkeit nicht inakzeptabel hoch ist. Der Maßstab, den Ökonomen zu ihrer Beantwortung entwickelt haben, trägt den Namen "externe Effekte". Zentral ist dabei die Frage, ob die einzelnen wirtschaftlichen Akteure in ihrem Kalkül in ausreichendem Masse berücksichtigen, welche Folgen ihr Verhalten für den Rest der Gesellschaft hat. Genau auf dieser Idee baute auch Adam Smiths Idee von der Unsichtbaren Hand des Marktes auf: unter "idealen" Voraussetzungen führen Eigentumsrechte und Marktpreise dazu, dass das Verhalten des Einzelnen so geleitet wird, als ob er das Gemeinwohl im Sinn habe.
Schauen wir uns aber beispielsweise die Fälle Volkswagen und BP genauer an, so sehen wir, dass die "idealen" Annahmen denkbar weit von realen Voraussetzungen entfernt sind. Die Folgen des VW-Skandals für die mehr als 600.000 Beschäftigten und ihre Familien, das Land Niedersachsen, den Rest der Automobilindustrie und das allgemeine Vertrauen der Öffentlichkeit in Märkte werden durch das bestehende Rechtssystem nicht adäquat internalisiert.
Das Informationsgefälle zwischen Management und Mitarbeitenden, zwischen Unternehmen und Öffentlichkeit schafft Spielräume, die einen Keil zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl treiben. Diese und eine Vielzahl ethischer Fragen deuten in dieselbe Richtung: Die Informationsvorsprünge und die besondere Tragweite der Entscheidungen schafft eine besondere, auch moralische Verantwortung für die Menschen, die solche Entscheidungen fällen. Wir müssen darauf hinwirken, dass dies als ein besonderes Privileg gesehen wird, und nicht als Kostenfaktor.
Verantwortung organisieren
Es ist unzureichend, auf Systemlogiken, Sachzwänge und unsichtbare Hände zu verweisen, um die eigenen in Unschuld zu waschen. Es gibt konkrete und durchaus sichtbare Hände, die handeln. Allerdings ist es auch nicht damit getan, mit dem ausgestreckten Finger auf "die Führungskräfte" zu zeigen. Es kann nicht um Schuld und Unschuld in einem konkreten Fall gehen, sondern vielmehr darum, sich bewusst zu machen, dass jeder von uns, in jeder Handlung, die Frage der Verantwortung stärker in den Vordergrund stellen muss, als wir es in den vergangenen Jahrzehnten vielleicht glaubten zu müssen.
Moralisches Handeln und Verantwortung muss in einem aristotelischen Sinne in Unternehmen (und anderen Organisationen) aber auch organisiert werden. Im Fall von Volkswagen muss davon ausgegangen werden, dass dies keine Tat Einzelner war, sondern vermutlich zahlreiche Mitarbeiter mit diesen Praxen vertraut waren. Entdeckt wurde der Betrug durch externe Untersuchungen des "International Councils on Clean Transportation (ICCT)" in Deutschland, die den entscheidenden Tipp an die amerikanischen Umweltbehörden (EPA) gab. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass viele Mitarbeiter bei VW brav ihren Mund gehalten und sich loyal gegenüber ihrem Unternehmen verhalten haben.
Man muss an dieser Stelle festhalten, dass in einer Kultur, in der anscheinend Ehrlichkeit nicht wertgeschätzt wurde, im Prinzip jeder einzelne Mitwisser Komplize wurde. Falls es Whistleblower gab, verhallten deren Klänge offensichtlich ungehört. Unternehmen stehen heute in der Pflicht sich so zu organisieren, dass kritische Hinweise auf Unregelmäßigkeiten nicht nur möglich, sondern von der Unternehmensleitung auch gewünscht sind, wenn man es mit Unternehmensverantwortung wirklich ernst meint. Die Mitarbeitenden müssen vom Management dazu ermutigt werden, auf Unregelmäßigkeiten hinzuweisen. Moderne Whistle-Blowing-Systeme stellen dafür vielfältige Möglichkeiten über interne wie externe Anlaufstellen bereit.
Weder die Wahrnehmung von individueller noch die Organisation von institutioneller Verantwortung – ob nun in Unternehmen oder über politische Rahmenordnungen – ist einfach; sie ist sogar schwierig. Mit der Adressierung dieser Fragen wären wir dann jedoch auf einer anderen Ebene von "Schwierigkeiten mit der Moral".
©KOF ETH Zürich, 2. Okt. 2015
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