Photo: Wikimedia Commons (CC 0) Die Französische Revolution wird gerne als Geburtsmoment moderner Demokratien porträtiert. Dabei hat sie mehr mit Extinction Rebellion und der Landratswahl in Sonneberg zu tun als mit der zivilisierten Suche nach Lösungen, die weithin zustimmungsfähig sind. Am Anfang stand die unbedarfte Plauderei Im Jahr 1762 erschien aus der Feder Jean-Jacques Rousseaus das Werk „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des politischen Rechtes“. Demokratietheoretiker verschiedenster Färbungen und Vorzeichen berufen sich auf das Büchlein. Aber auch der blutigste Schlächter der Französischen Revolution, Maximilien Robespierre. Das Buch wirkt, als ob es mit flotter Feder geschrieben worden wäre. Anders als etwa sein Zeitgenosse Immanuel Kant, dessen windungsreiche
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Die Französische Revolution wird gerne als Geburtsmoment moderner Demokratien porträtiert. Dabei hat sie mehr mit Extinction Rebellion und der Landratswahl in Sonneberg zu tun als mit der zivilisierten Suche nach Lösungen, die weithin zustimmungsfähig sind.
Am Anfang stand die unbedarfte Plauderei
Im Jahr 1762 erschien aus der Feder Jean-Jacques Rousseaus das Werk „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des politischen Rechtes“. Demokratietheoretiker verschiedenster Färbungen und Vorzeichen berufen sich auf das Büchlein. Aber auch der blutigste Schlächter der Französischen Revolution, Maximilien Robespierre. Das Buch wirkt, als ob es mit flotter Feder geschrieben worden wäre. Anders als etwa sein Zeitgenosse Immanuel Kant, dessen windungsreiche Schachtelsätze in seinem qualvollen Ringen um Präzision auch den Leser in Ächzen, Stöhnen und Schwitzen versetzen, plaudert Rousseau munter vor sich hin. Munter – und womöglich oft auch unbedacht. Es ist ein Phänomen, das man bei öffentlichen Intellektuellen nicht selten antrifft: die Freude an der eigenen Wortmacherei und an dem Applaus, der darauf folgt, lässt Präzision, Nuancierung und Folgenabschätzung unter den Tisch fallen.
Der „Gesellschaftsvertrag“, der für viele der Revolutionäre von 1789 zum maßgeblichen Handbuch wurde, birgt in seiner die möglichen Konsequenzen von Worten völlig unterschätzenden Nonchalance mancherlei unheilvollen Samen. So entwirft Rousseau am Ende des Buches eine Zivilreligion, deren Sinn es ist, all die von ihm zuvor ersonnenen Wohltaten des Gemeinwesens noch einmal abzusichern. Die Sicherung von Macht ist eine Funktion, die Religion ja immer wieder übernommen hatte: Von den Göttern der Priesterstaaten des Alten Orients über die athenische Demokratie, die den Quertreiber Sokrates unter dem Vorwand der Blasphemie beseitigte, bis zum Gottesgnadentum der Neuzeit. Hier ist sie zusammengefasst, die neue, gereinigte Religion des neuen Zeitalters – die Zivilreligion:
Es gibt daher ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinanders, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein. Ohne jemand dazu verpflichten zu können, sie zu glauben, kann er jeden aus dem Staat verbannen, der sie nicht glaubt; er kann ihn nicht als Gottlosen verbannen, sondern als einen der sich dem Miteinander widersetzt und unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit ernstlich zu lieben und sein Leben im Notfall der Pflicht zu opfern. […] Die Dogmen der bürgerlichen Religion: […] Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen, sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze.
Die Zivilreligion wird zu Zivilinquisition
So weit, so pompös. Wer diesen Abschnitt mit den Augen eines zivilisierten Menschen im 21. Jahrhundert liest, wird sich etwas über Staub und Patina dieser Worte amüsieren, aber ansonsten entspannt zurückgelehnt denken: „Joa, Verfassungspatriotismus und so.“ Aber die Wirkungsgeschichte hat noch ganz andere Volten und Verästelungen genommen. Manche Spuren davon kann man heute auf dem Berliner Asphalt und in Thüringer Wahlurnen wiederfinden. Denn wie jede Religion entwickelt auch diese, entgegen allen Beteuerungen Rousseaus, nicht nur ein Glaubensbekenntnis, sondern auch eine Glaubenskongregation oder Inquisition, wie sie früher hieß. Es entstehen Rituale, Dogmen, Hierarchien. Und es entsteht eine Atmosphäre, die im Neuen Testament umschrieben wird mit: „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich.“
In der Französischen Revolution nahmen Rousseaus achtlose Gedanken grausame Gestalt an: Die Gegner oder auch nur Kritiker der neuen Welt wurden von Robespierre und seinen Mitstreitern so brutal abgeschlachtet wie 560 Jahre zuvor die „Katharer“, die dem Begriff der Ketzer den Namen gaben. Und bis auf den heutigen Tag dienen Rückbezüge auf die „volonté général“ und „die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze“ dazu, Unterdrückung, Terror und Mord zu rechtfertigen. An der Wurzel dieses Missbrauchs liegt ein intellektueller Rückfall in dunkle Zeiten, den ausgerechnet der selbsterklärte Aufklärer Rousseau zu verantworten hat.
Weg mit den rhetorischen und emotionalen Guillotinen!
Über viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende, ist es den Menschen gelungen, die unheilvolle Verbindung von Religion und Politik, Glaubensgemeinschaft und Staat zu entflechten. Diese Verbindung, die die virtuelle und moralische Macht über die Seelen mit der realen Macht über die Leiber zu einem Instrument totalitärer Herrschaft verknüpfte, war in mühevoller Arbeit aufgelockert worden, um neue Freiheitsräume zu schaffen. Die Neuzeit und die Aufklärung definieren sich geradezu über ihren Fokus, diese Freiheitsräume auszuweiten. Und genau diesen Prozess dreht Rousseau mit Wucht um, indem er eine neue Religion gründet. Es ist ein Rückfall in finsterste Zeiten, der da in Gang gebracht wird. Und das liegt daran, dass Herrschaft wieder mit Glaube und Moral aufgeladen wird – wie einst bei den Gottkönigen Ägyptens oder den päpstlichen Kriegsherren.
Die Folgen sehen wir heute noch überdeutlich. Ja, die Guillotine ist gemeinhin kein Mittel der Politik mehr. Aber für viele Akteure im politischen Diskurs ist Moral die Kategorie, mit der Maßnahmen und Positionen eingeordnet werden. Die Vorschläge der Mitbewerber im Ringen um die richtige Antwort werden nicht nach sachlichen Kriterien, Stringenz oder Realitätsnähe beurteilt, sondern nach gut und böse sortiert. Wobei „gut“ klar definiert ist, wie bei Rousseaus „Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze“. Die andere Meinung ist also nicht nur irrig, falsch oder nicht zustimmungsfähig, sondern ein Sakrileg. Dieser Angriff auf das Heilige rechtfertigt in der Folge eine ganz andere Dimension des Entsetzens und der Wut. Der heilige Zorn muss keine Rücksicht mehr nehmen auf nüchterne Problemlösung oder die Regeln des zivilisierten Dialogs und respektvollen Miteinanders. Wenn die Gegner mit ihrem „Genderwahn“, „Neoliberalismus“ oder ihrer „Leugnung“ des Klimawandels das Allerheiligste bedrohen, ist Kreuzzug angesagt.
Wenn wir aber nicht nur schnöde recht behalten wollen, sondern wirklich weiterkommen wollen, müssen wir die rhetorischen und emotionalen Guillotinen aus unseren Diskursen verdrängen. Wir müssen die transzendentale Aufladung pragmatischer Debatten beenden und eine neue Phase der Säkularisierung ausrufen. Natürlich müssen übergeordnete Werte im Reich des Politischen eine Rolle spielen. Aber als Orientierungspunkte für unser eigenes Denken und Streben. Und nicht als Handbuch des Inquisitionsgerichtes über andere.