Photo: Wellcome Images from Wikimedia (CC BY 4.0) Zu Corona-Zeiten erlangt die Wissenschaft eine nie dagewesene Öffentlichkeit und Bedeutung. Doch Wissenschaft ist nicht Politik, und das führt zu großen Missverständnissen. Die Popstars der Krise sprechen ihre eigene Sprache Wissenschaftler sind die Popstars der Corona-Krise: Millionen hängen allwöchentlich bei Anne Will an ihren Lippen. Der eigentlich ziemlich dröge tägliche Lagebericht des RKI ist ein nationales Medienereignis, und der gemeinsame Podcast von NDR und Christian Drosten stürmt kurzerhand die Spotify-Charts, während Bodo Wartke schon Lieder darüber dichtet. Ja, es würde vermutlich nicht verwundern, zu sehen, wie Deutschlands Vorzeige-Virologen auf der Straße für ein gemeinsames Selfie angehalten würden – wären da nicht die
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Zu Corona-Zeiten erlangt die Wissenschaft eine nie dagewesene Öffentlichkeit und Bedeutung. Doch Wissenschaft ist nicht Politik, und das führt zu großen Missverständnissen.
Die Popstars der Krise sprechen ihre eigene Sprache
Wissenschaftler sind die Popstars der Corona-Krise: Millionen hängen allwöchentlich bei Anne Will an ihren Lippen. Der eigentlich ziemlich dröge tägliche Lagebericht des RKI ist ein nationales Medienereignis, und der gemeinsame Podcast von NDR und Christian Drosten stürmt kurzerhand die Spotify-Charts, während Bodo Wartke schon Lieder darüber dichtet. Ja, es würde vermutlich nicht verwundern, zu sehen, wie Deutschlands Vorzeige-Virologen auf der Straße für ein gemeinsames Selfie angehalten würden – wären da nicht die Kontaktbeschränkungen… Nun mag man sich zu Recht freuen, dass wir in Deutschland nicht von Menschen durch diese Krise geleitet werden, die das Spritzen von Desinfektionsmittel für geeigneten Virenschutz halten. Doch tatsächlich geht so manchem die Omnipräsenz der Wissenschaft bereits zu weit. Das liegt nicht etwa an einer bevorstehenden Machtübernahme durch RKI, PEI und Co., sondern an einem eklatanten Missverständnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Denn Wissenschaft ist nicht Politik. Sie hat ihre eigenen Gesetze, ja sogar ihre eigene Sprache. Ein Vermittlungsversuch:
Widerspruch und Hinterfragen sind nicht schlechtes, sondern das Elixier der Wissenschaft
Neue epidemiologische Erkenntnisse verbreiten sich aktuell wie Lauffeuer. Reproduktionszahl, Verdopplungszeit und Übersterblichkeit haben Einzug in unsere Alltagssprache gefunden. Statt 80 Millionen Bundestrainer während der eigentlich bald stattfindenden Fußball-Europameisterschaft, sind wir nun ein Volk von 80 Millionen Virologen. Das rege Interesse ist natürlich absolut verständlich, hängen doch ganze Existenzen von der Entwicklung der Corona-Pandemie ab. Allerdings mangelt es nicht nur so manchem „Otto Normalbürger“ an einem grundlegenden Verständnis für die Funktionsweise von Wissenschaft. Auch in besagten Talkshows konfrontieren Entscheidungsträger die eingeladenen Experten mit Kritik und Vorwürfen, die ein eklatantes Unverständnis um die Arbeitsweise von Wissenschaft offenbaren. Wissenschaftler mögen sich doch jetzt endlich zusammensetzen und sich einig werden. Und was solle überhaupt dieser ganze „Virologen-Clinch“, das sei doch nur Ausdruck von überstiegenem Geltungsbewusstsein.
Solche Reaktionen verkennen, dass Widerspruch und Diskussion die zentralen epistemologischen Elemente von Wissenschaft sind. Wissensgewinnung ist so ungeheuer komplex, dass sich mit der Wissenschaftstheorie eine ganze Wissenschaft der Erforschung und Analyse der Methoden der Wissenschaft gewidmet hat. Zentrales Element von seriöser Wissenschaft ist, anzuerkennen, dass wir keine absoluten Wahrheiten erkennen können. So stellt der Wissenschaftstheoretiker Sir Karl Popper fest: „Unser Wissen ist ein kritisches Raten, ein Netz von Hypothesen, ein Gewebe von Vermutungen.“ Erkenntnisgewinn funktioniert über das Widerlegen dessen, was wir bisher für zutreffend gehalten haben. Wissenschaft besteht aus einem Geflecht von Hypothesen, die für den Moment angenommen beziehungsweise (noch) nicht widerlegt wurden. Es ist also kein „Irren“, und schon überhaupt kein „Clinch“, wenn sich Wissenschaftler widersprechen oder korrigieren. Widerspruch und Hinterfragen sind das Elixier der Wissenschaft.
Vorsicht mit der Interpretation von Ergebnissen
Folglich, so Popper weiter, ist Wissenschaft „die Methode, kühne Hypothesen aufzustellen und sie der schärfsten Kritik auszusetzen, um herauszufinden, wo wir uns geirrt haben.“ Auf diesem Grundsatz baut der gesamte moderne Wissenschaftsbetrieb auf. Die Naturwissenschaft veröffentlicht ihre Erkenntnisse in Zeitschriften wie der renommierten „Nature“ oder dem medizinischen Fachblatt „Lancet“. Zeitschriften werden beispielsweise anhand ihres Einflusses, des „Impact Factor“, bewertet. Je höher der Impact Factor, desto renommierter die Zeitschrift und desto begehrter ein Artikelplatz. Besonders renommierte Zeitschriften haben also einen Ruf zu verlieren und schauen deshalb bei Artikeleinsendungen ganz besonders genau hin. Viele Artikel werden direkt vom „Editor“ abgelehnt. Der Rest durchläuft den aufwändigen „peer review“-Prozess, bei dem andere Wissenschaftler aus demselben Forschungsfeld die Einsendung kritisch bewerten und kommentieren. Nur wenn diese mehrheitlich eine Veröffentlichung empfehlen, und erst wenn sie keine Fehler mehr im Artikel finden, kann dieser für den Druck freigegeben werden. Natürlich ist dieser Prozess ungemein aufwändig und verschlingt nicht selten Jahre von der Durchführung einer Studie bis zur tatsächlichen Veröffentlichung in einem wissenschaftlichen Journal.
Es sollte also jedem klar sein, dass der gewohnte Wissenschaftsbetrieb im Moment Kopf steht. Aktuelle Studien zu Corona können bis dato in den seltensten Fällen den gleichen langwierigen Korrekturprozess durchlaufen haben wie sonst üblich. Um aber trotzdem Kollegen auf der ganzen Welt neue Hypothesen und Daten quasi in Echtzeit zur Verfügung zu stellen, werden bereits Studien in unterschiedlichen Stadien vor der Veröffentlichung verbreitet – mit all den Fehlern und Widersprüchen, die sonst während des peer-review-Prozesses noch ausgebügelt werden können. Doch wir müssen gar doppelt vorsichtig sein. Denn selbst wenn wir einer Veröffentlichung Glauben schenken wollen oder können, gilt es, die zumeist statistischen Ergebnisse richtig zu interpretieren. Auch hier werden nämliche keine objektiven Wahrheiten präsentiert, sondern lediglich Wahrscheinlichkeiten. Jede empirische Feststellung, wie z.B. der berühmte Reproduktionswert R, beinhaltet die Möglichkeit der Abweichung. So wurde mit Datenstand 2. Mai der R-Wert vom RKI auf zwischen 0,66 und 0,9 geschätzt. Das RKI nutzt hier einen Konfidenzintervall von 95%. Übersetzt bedeutet das mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% steckt jeder Infizierte in Deutschland zwischen 0,66 und 0,9 – im Mittel 0,78 – weitere Personen an. R ist also nicht nur nicht genau 0,78, sondern auch nicht mit absoluter Sicherheit unter der magischen Reproduktionszahl von 1.
Politik ist die Kunst der verantwortungsvollen Abwägung
Die Kategorien, in denen wir uns jüngst angewöhnt haben über Politiker und ihre Maßnahmen zu diskutieren, sind der Wissenschaft nicht nur fremd, sie sind toxisch für den öffentlichen Diskurs. Es geht in der Wissenschaft nicht um Wahrheit oder Lüge, um Fake News oder Fakten. Es gibt auch keine Parteilichkeit, die bestimmte Erkenntnisse richtiger oder wichtiger macht als andere. Nur weil der oder die eigene Parteivorsitzende eine Erkenntnis auf eine bestimmte Art und Weise auslegt, wird sie dadurch noch lange nicht richtig. Ein erster Schritt wäre vermutlich gemacht, wenn sich alle Politiker der Funktionsweise von Wissenschaft nicht nur bewusstwürden, sondern den richtigen Umgang damit auch vorlebten. Dazu gehört dann auch, von absurden Wahrheits- und Einigungsforderungen Abstand zu nehmen, und die Wissenschaft nicht dafür zu kritisieren, dass sie ihre Arbeit macht, und sich auch einmal korrigiert.
Noch viel wichtiger aber ist es, das Verhältnis von Wissenschaft und Politik zu definieren. Die Bürger unserer Demokratie wollen nicht von Virologen regiert werden. Jeder Eindruck in diese Richtung senkt die Akzeptanz für Wissenschaft und Politik. Wissenschaft spielt aktuell eine größere Rolle als sonst bei der Politikfindung – und das ist auch gut so. Aber Wissenschaft ist mehr als eine Disziplin. Auch Sozialwissenschaftler, Psychologen oder Historiker haben etwas zur Debatte beizutragen. Demokratie lebt vom Diskurs und soll ein lernfähiges System sein. Insofern sind Abwägung und Korrektur hier, anders als in totalitären Systemen, gewünscht und tragen zur langfristigen Stabilität bei. Gefordert ist eine Abwägung dessen, was Experten raten, aber auch dessen, was man den Wählern versprochen hat, was Akzeptanz erzielt, verhältnismäßig und geeignet ist. Letztendlich bedeutet Politik also, nach Abwägung möglichst vieler Informationen das zu tun, was man für richtig hält und dafür Verantwortung zu übernehmen. Wissenschaftler können ein Teil dieses Prozesses sein, der Politik aber weder Aufgabe noch Verantwortung abnehmen.