Friday , December 20 2024
Home / Ökonomenstimme / Das Defizit in der Gesetzlichen Krankenversicherung und verfehlte Schuldzuweisungen

Das Defizit in der Gesetzlichen Krankenversicherung und verfehlte Schuldzuweisungen

Summary:
Im Budget der Gesetzlichen Krankenversicherung klafft ein Loch von 17 Mrd. Euro. Gesundheitsminister Lauterbach sieht die Schuld bei seinem Vorgänger. Dabei muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er als führender Gesundheitspolitiker der SPD dafür gesorgt hat, dass die Finanzierungsreform, die mit der Einführung des Gesundheitsfonds auf den Weg gebracht worden war, scheitern musste. Die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist zurück in den Schlagzeilen. Ende Juni überraschte Gesundheitsminister Karl Lauterbach die deutsche Öffentlichkeit mit der Erkenntnis, dass es bei der GKV ein Finanzierungsloch von 17 Mrd. Euro gebe. Die Hiobsbotschaft hat der Minister nicht ohne distanzierende Schuldzuweisung verkündet. Die Bundesregierung habe, so Lauterbach, die

Topics:
Wolfram F. Richter considers the following as important:

This could be interesting, too:

finews.ch writes Zu Besuch in Ruinarts neuem Tempel der Champagner-Kunst

Swiss National Bank writes 2024-12-18 – Data portal – Selected data from the Quarterly Bulletin 4/2024

Swiss National Bank writes 2024-12-18 – Publications – Quarterly Bulletin 4/2024

finews.ch writes Auch Postfinance gestaltet die Filialen neu

Im Budget der Gesetzlichen Krankenversicherung klafft ein Loch von 17 Mrd. Euro. Gesundheitsminister Lauterbach sieht die Schuld bei seinem Vorgänger. Dabei muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er als führender Gesundheitspolitiker der SPD dafür gesorgt hat, dass die Finanzierungsreform, die mit der Einführung des Gesundheitsfonds auf den Weg gebracht worden war, scheitern musste.

Die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist zurück in den Schlagzeilen. Ende Juni überraschte Gesundheitsminister Karl Lauterbach die deutsche Öffentlichkeit mit der Erkenntnis, dass es bei der GKV ein Finanzierungsloch von 17 Mrd. Euro gebe. Die Hiobsbotschaft hat der Minister nicht ohne distanzierende Schuldzuweisung verkündet. Die Bundesregierung habe, so Lauterbach, die Finanzen der GKV „in einem sehr schwierigen Zustand vorgefunden“. Der Vorgänger im Amt, Jens Spahn, habe hohe Leistungsausweitungen eingeleitet und echte Strukturreformen vernachlässigt. Mit dieser Klage lenkt der Minister indes lediglich von eigener Verantwortung ab. Schließlich hat er als führender sozialdemokratischer Gesundheitsexperte jahrelang darauf hingewirkt, dass die Finanzierungsreform, die mit der Einführung des Gesundheitsfonds auf den Weg gebracht worden war, scheitern musste.

Der Gesundheitsfonds als Kompromiss

Der Gesundheitsfonds war das Ergebnis eines politischen Kompromisses, auf den sich die Regierung Merkel-Müntefering bei der Bemühung um eine allseits als notwendig erkannte Finanzierungsreform 2007 verständigen konnte. Die CDU hatte im Wahlkampf 2005 für die Einführung effizienzförderlicher Kopfpauschalen geworben und die SPD für den Übergang zu einer finanzierungsgerechten Bürgerversicherung. Die beiden Modelle schlossen sich wechselseitig aus.

Die Bedeutung des Gesundheitsfonds erschöpfte sich indes nicht in seiner Eignung als Kompromisslösung. Er war vielmehr mit dem Ziel konzipiert worden, die Überdehnung der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, die in der lohnbezogenen, paritätischen Beitragsfinanzierung angelegt ist, zu beenden (Richter, 2005). Die Leistungseffizienz in der GKV sollte gesteigert werden, ohne die solidarische Beitragsfinanzierung völlig aufzugeben. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass nicht länger volle 100 Prozent, sondern durchschnittlich lediglich 99 Prozent der Gesundheitsausgaben von den Versicherten und ihren Arbeitgebern paritätisch und lohnbezogen finanziert werden. Das verbleibende ein Prozent sollte für den sogenannten Zusatzbeitrag reserviert bleiben, der neuartig bemessen und aufzubringen sein sollte. Genauer sollte er (i) kassenindividuell, (ii) allein vom Versicherungsnehmer und also nicht hälftig vom Arbeitgeber, (iii) in einem festen Eurobetrag und also nicht lohnbezogen sowie (iv) bei günstiger Kassenlage auch negativ und also als Bonuszahlung erhoben werden.

Zu erwarten war, dass in einem System mit derart bemessenen Zusatzbeiträgen der Wettbewerb um Versicherte die Krankenkassen auf Dauer dazu bringt, gesundheitliche Versorgungsstrukturen effizient zu managen und als Gegenleistung für den allgemeinen lohnbezogenen Beitrag eine Kostenübernahme auf das medizinisch Notwenige zu beschränken. Dabei wäre das, was als medizinisch notwendig zu gelten hat, nach bewährter deutscher Praxis in dem Gemeinsamen Bundesausschuss, dem höchsten Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, festzulegen. Was im medizinischen Sinne als nicht notwendig eingestuft würde, wäre dagegen nur im Rahmen einer wählbaren Zusatzversicherung zu haben, vom Einzelnen zu entscheiden und so wie in der PKV mit lohnunabhängigen Prämien zu bezahlen. Die wettbewerblich herbeigeführte Abtrennung des medizinisch nicht Notwendigen vom Notwendigen und deren unterschiedliche Finanzierungen sind als die eigentliche Allokationsleistung des Gesundheitsfonds zu verstehen.

Notwendige Begleitreformen

Damit der Gesundheitsfonds die ihm zugedachte Allokationsfunktion übernehmen kann, ist es indes nicht damit getan, die Finanzierung in allgemeine lohnbezogene Beiträge und lohnunabhängige Zusatzbeiträge aufzuspalten. Zusätzlich müssten die Krankenkassen in die Lage versetzt werden, als Sachwalter der Interessen ihrer Versicherten ein effizientes Versorgungsmanagement organisieren und wettbewerblich anbieten zu können. Dieses Ziel verlangte dann die Einräumung erweiterter Vertragsfreiheiten mit der Folge, dass die Kompetenzen im Gesundheitswesen zu Gunsten der Krankenkassen und zu Lasten von Politik und medizinischen Leistungserbringern verschoben würden. Die Politik hätte sich bei der Steuerung der Versorgungsstrukturen zurückzunehmen, weil sich in einem so komplexen System wie dem Gesundheitswesen viele Dinge durch Gesetze und Verordnungen nicht effizient regeln lassen. Insbesondere wären bei der Krankenhausplanung, die derzeit alleinige Aufgabe der Bundesländer ist, den Krankenversicherungen als den primären Finanziers der Kosten der stationären Versorgung eine Mitsprache einzuräumen. Aus gleichem Grund wäre es wünschenswert, dass der Sicherstellungsauftrag in der ambulanten haus- und fachärztlichen Versorgung zwischen kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenversicherungen geteilt würde. Alle diese Kompetenzverschiebungen hätten mit dem Ziel zu erfolgen, den Krankenversicherungen eine wettbewerblich geteilte Verantwortung für die Interessen ihrer Versicherten zu übertragen. Die Rolle der Krankenversicherungen sollte sich nicht länger auf die Verteilung von Finanzmitteln beschränken. Vielmehr sollten sie in die Rolle von Einrichtungen gedrängt werden, die im Versorgungsmanagement innovativ agieren, um Zufriedenheit ihrer Versicherten zu schaffen und im Wettbewerb zu bestehen.

Das würde allerdings verlangen, dass die Krankenkassen mit Ärzten, Krankenhäusern und allen übrigen Leistungserbringern selektiv über Preise und Mengen verhandeln können, um attraktive Leistungspakete zu schnüren, zwischen denen die Versicherten dann zu wählen hätten. Ein derartiges Versorgungsmanagement gilt international als der Schlüssel zu einer hochwertigen und kostengünstigen Versorgung. In Deutschland existiert es nur in bescheidenen Ansätzen. So hat der Gesetzgeber mit der hausarztzentrierten und besonderen Versorgung nach § 73b bzw. 140a §SGB V zwar einen ersten Schritt unternommen, der aber nicht ausreicht und auch nicht funktionsgerecht ausgestaltet wurde.

Strukturprobleme in der stationären Versorgung

Z.B. können die Krankenkassen die Übernahme von Kosten selbst dann nicht als Teil eines Wahltarifes ausschließen, wenn sie an einem für die konkrete Behandlung ungeeignet erscheinenden, aber von einem in die Landesplanung aufgenommenen Krankenhaus angefallen sind. Die Ausschlussmöglichkeit wäre aber notwendig, um die Patientenströme medizinisch sinnvoll zu lenken. Internationale Vergleiche zeigen, dass Deutschland über zu viele Krankenhäuser verfügt, die häufig zu klein und unzulänglich ausgestattet sind. Es gibt auch zu viele Betten, die ausgelastet werden wollen, wenn alle fixen Kosten der Häuser gedeckt werden sollen. Die Folge ist, dass im internationalen Vergleich in Deutschland zu viel operiert wird und dass die hohe Zahl an Patienten von zu wenig Personal gepflegt wird (Leopoldina, 2016; Wiss. Beirat beim BMF, 2018).

Das alles ist das Ergebnis einer Politik, die sich als unfähig erwiesen hat, die überkommene Krankenhausstruktur den modernen Erfordernissen anzupassen. Zuständig wären wie gesagt die Länder, die sich aber in der Praxis auf die Errichtung neuer Krankenhäuser beschränken und vor Schließungen zurückschrecken. Schließlich lässt sich mit Schließungen für die Länderhaushalte wenig einsparen. Die Kosten werden überwiegend von den Krankenversicherungen getragen und bundesweit umverteilt. Mit Schließungen erregt man allenfalls politischen Unmut bei der lokalen Bevölkerung. Die wünscht sich in aller Regel das nahe gelegene Krankenhaus, hat sich daran auch gewöhnt und versteht nicht, dass es im Ernstfall die erwartete Hilfe gar nicht leisten kann. Entgegen verbreiteter Auffassung liefert die Corona-Pandemie dafür ein Beispiel. Die Verfügbarkeit von nahen Krankenhausbetten bietet nur eine Scheinsicherheit. Viele Krankenhäuser sind mangels Ausstattung gar nicht in der Lage, im Bedarfsfall intensivmedizinisch zu behandeln. Von den 1.903 Krankenhäusern in Deutschland verfügten 2020 nur 1.106 über Intensivbetten.

Kurzum, die Struktur der stationären Versorgung in Deutschland ist in hohem Maße reformbedürftig. Als Vorbild für Reformen wird immer wieder auf Dänemark verwiesen. So heißt es in der zitierten Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina von 2016, dass Deutschland mit 330 Krankenhäusern auskäme, wenn es hierzulande dänische Verhältnisse gäbe.

Offenbar haben die Länder weder die finanziellen Anreize noch die politische Kraft, die überfällige Strukturbereinigung in der stationären Versorgung durchzusetzen. Daher sollte man die notwendigen Konsequenzen ziehen und stärker auf politikferne Marktmechanismen setzen. Gegen eine wettbewerbliche Bereinigung der Krankenhausstruktur wird indes gerne vorgebracht, dass diese die wohnortnahe Versorgung gefährde. Für ländliche Räume mag das sogar stimmen, könnte aber durch gezielte Interventionen geheilt werden und sollte nicht als Argument gegen jede Form von Wettbewerb herhalten.

Politische Fehlentscheidungen nach 2009

Statt das allokationspolitische Steuerungspotenzial des Gesundheitsfonds im skizzierten Sinne zu ergänzen und auszubauen, beschränkten sich die politischen Anstrengungen nach 2009 auf kleine und nicht weiterführende Korrekturen an der Bemessung der Zusatzbeiträge. So nutzte die FDP ihren Einfluss in der Regierung Merkel-Westerwelle, um die allokative Steuerungsfunktion der Zusatzbeiträge zu festigen. Das kam für Beobachter insofern überraschend, als führende Vertreter der Partei im Wahlkampf noch versucht hatten, den Gesundheitsfonds als bürokratischen Murks zu verunglimpfen.[1] Dabei hat der Gesundheitsfonds nie etwas mit Bürokratie zu tun gehabt. Er stand und steht lediglich als Metapher für ein Computerprogramm, das die lohnabhängigen Beitragszahlungen der Versicherten in lohnunabhängige Einnahmen der Krankenkassen umrechnet. Aber schon die nachfolgende Regierung Merkel-Gabriel begann, Politik gegen den Gesundheitsfonds zu machen. Und zwar brachte Karl Lauterbach als Verhandlungsführer der SPD mit arg strapazierten Gerechtigkeitsargumenten im Koalitionsvertrag die Bestimmung unter, dass kassenindividuelle Zusatzbeiträge nicht länger anders als der allgemeine Beitrag zu bemessen seien, und zwar als prozentualer Satz vom beitragspflichtigen Einkommen. Sein eigentliches Ziel, die Arbeitgeber an den steigenden Gesundheitskosten wieder paritätisch zu beteiligen, erreichte Lauterbach dagegen erst vier Jahre später mit der Regierung Merkel-Scholz. Da setzte er in den Koalitionsverhandlungen durch, dass auch für die Zusatzbeiträge die paritätisch finanzierte, lohnbezogene Verbeitragung zu gelten habe. Seit 2019 ist damit von der Allokationsfunktion des Gesundheitsfonds rein gar nichts übriggeblieben. Der Fonds verteilt nur noch Finanzmittel um und wird nicht länger der ihm zugedachten Funktion gerecht, die Versicherten dazu zu bringen, bei der Wahl von zusätzlichen Versicherungsleistungen kostenbewusste Entscheidungen zu treffen.

Nun wird man nicht behaupten können, dass die GKV heute kein Finanzierungsproblem hätte, wenn nur nicht jahrelang Politik gegen den Gesundheitsfonds betrieben worden wäre. Der Gesundheitsfonds kam schließlich auch deswegen unter Druck, weil immer wieder Leistungsausweitungen beschlossen wurden. So hat man in der letzten Legislaturperiode die Finanzierung der Pflegekosten in Krankenhäusern neu geregelt. Seit 2020 werden diese unabhängig vergütet. Dabei soll die Notwendigkeit dieser Reform nicht weiter hinterfragt werden. Sie wird hier erwähnt, weil ihre Finanzierung grundsätzlichere Fragen aufwirft.

Die Alterung der Gesellschaft sowie der medizinisch-technische Fortschritt bringen es mit sich, dass bei gesundheitsrelevanten Leistungen Nachfrage und Angebot stetig zunehmen. Beides zusammen, der Prozess der Alterung sowie der Erfindungsreichtum der Menschen, schaffen stetig neue Bedürfnisse, deren Befriedigung nicht immer medizinisch zwingend ist und deren Finanzierung nur dann nicht für die Beitragszahler zur erdrückenden Last wird, wenn sich die Kosten durch entsprechende Nutzenstiftung rechtfertigen lassen. Dieser Abgleich von Kosten und Nutzen ist aber ein höchst individueller, denn was der eine als wünschenswert erachtet, erscheint dem anderen verzichtbar. Allenfalls bei medizinisch Notwendigem ist es vertretbar, den individuellen Abgleich durch Kollektivbeschlüsse zu ersetzen. Wie erwähnt, geschieht das in Deutschland gestützt auf Expertenurteil im Gemeinsamen Bundesausschuss. Allokationspolitisch ist es von überragender Bedeutung, dass für die Finanzierung der Gesundheitskosten eine Form gefunden wird, die die Versicherungsnehmer veranlasst, jenseits des medizinisch Notwendigen kostenbewusste Entscheidungen zu treffen. Die in der lohnbezogenen, paritätischen Finanzierung angelegte Überdehnung der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen gilt es also zu stoppen. Die politische Konsequenz müsste lauten, den Gesundheitsfonds mit den Zusatzbeiträgen in der lohnunabhängigen Form wiederherzustellen und in wohl ausgewählten Bereichen den Krankenkassen die Kompetenz einzuräumen, mit den Erbringern von Gesundheitsleistungen selektiv über Preise und Mengen zu verhandeln.

Leopoldina, 2016, Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem – 8 Thesen zur Weiterentwicklung zum Wohle der Patienten und der Gesellschaft, Halle/Saale.

Richter, Wolfram F., 2005, Gesundheitsprämie oder Bürgerversicherung? Ein Kompromiss­vorschlag, Wirtschaftsdienst, 693–697.

Wiss. Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, 2018, Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern: Gründe und Reformoptionen, Gutachten.


[1] Stellvertretend Birgit Homburger, 2008: https://www.fdpbw.de/gesundheitsfonds-ist-buerokratischer-murks/[ a ]

©KOF ETH Zürich, 25. Aug. 2022

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *