Photo: Andrè Hofmeister from Flickr (CC BY-SA 2.0) Das Jahr 2020 ist nicht nur ein Katastrophenjahr, sondern auch ein Jahr der Wertschätzung: Pflegepersonal, Supermarktangestellte, Gastarbeiterkinder mit Biotechnologie-Unternehmen. Ganz unabhängig von Pandemien gibt es eine Gruppe, die auch sehr viel (mehr) Wertschätzung verdient hat: die Selbständigen und Kleinunternehmer. Sie sind unter uns … Sie fallen selten auf, obwohl sie mitten unter uns leben. Sie sind in derselben Yoga-Gruppe wie wir und tröten mit uns zusammen im Posaunenchor. Wir sitzen neben ihnen beim Elternabend und stehen jeden Morgen neben ihnen im Regionalexpress. Wir sehen, wie ihre Kinder immer größer werden, und wir kennen ihre bevorzugte Biersorte. Aber es gibt einen erheblichen Teil ihres Lebens, der den meisten von
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Das Jahr 2020 ist nicht nur ein Katastrophenjahr, sondern auch ein Jahr der Wertschätzung: Pflegepersonal, Supermarktangestellte, Gastarbeiterkinder mit Biotechnologie-Unternehmen. Ganz unabhängig von Pandemien gibt es eine Gruppe, die auch sehr viel (mehr) Wertschätzung verdient hat: die Selbständigen und Kleinunternehmer.
Sie sind unter uns …
Sie fallen selten auf, obwohl sie mitten unter uns leben. Sie sind in derselben Yoga-Gruppe wie wir und tröten mit uns zusammen im Posaunenchor. Wir sitzen neben ihnen beim Elternabend und stehen jeden Morgen neben ihnen im Regionalexpress. Wir sehen, wie ihre Kinder immer größer werden, und wir kennen ihre bevorzugte Biersorte. Aber es gibt einen erheblichen Teil ihres Lebens, der den meisten von uns überhaupt gar nicht bewusst ist. Was ist denn so besonders an diesen Menschen, die mit uns Tür an Tür leben? Die Inhaberin des Schreibwarengeschäfts. Der Gerüstbauer. Die Landtierärztin. Der Imbissbesitzer. Die Architektin. Der Übersetzer. Die Winzerin.
Sie haben sich zu einem Wagnis entschieden. Die meisten Menschen streben nach Abschluss der Schule, der Ausbildung oder des Studiums einer sicheren Stelle entgegen, als Angestellte oder im öffentlichen Dienst. Sie werden sich darauf verlassen können, dass ihr Gehalt pünktlich überwiesen wird und dass sie Rentenansprüche erwerben, dass sie Urlaub nehmen können und Überstunden bezahlt bekommen. Auf eine solch komfortable Ausgangssituation verzichten diejenigen, die sich für den Gang in die Selbständigkeit entscheiden. Mehr noch: sie gehen bewusst Risiken ein. Oft schon mit jungen Jahren nehmen sie Kredite auf und übernehmen Verantwortung für Mitarbeiterinnen und Kunden, Patienten oder Geschäftspartner. Sie schlagen sich die Nächte mit Buchhaltung um die Ohren und telefonieren im Urlaub Stunden lang mit der Gewerbeaufsicht.
Der soziale Kitt
Diese Selbständigen und kleinen Unternehmer machen unser Leben so viel besser und bunter! Sie sorgen dafür, dass wir nachts um 1 Uhr noch an Vanilleeis kommen, unser Hexenschuss Linderung findet, Onkel Erwins Erbe ordnungsgemäß abgewickelt wird, das Bewerbungsfoto gut aussieht und der Stammtisch dienstags immer für uns frei bleibt. Sie begegnen uns mit Freundlichkeit und sind oft erreichbar, wenn Behörden und Callcenter großer Unternehmen schon längst die Schotten dicht gemacht haben. Viele von ihnen betreiben keine aufwendige Lobbyarbeit, um auf Kosten anderer die eigene Position zu stärken. Sie streiken nicht und holen nicht McKinsey ins Unternehmen, um Stellen abbauen zu lassen. Und ganz besonders sorgen sie durch Offenheit und Zuverlässigkeit für den sozialen Kitt in unserer Gesellschaft. Sie sind – in den Worten von Ernst-Wolfgang Böckenförde – substantieller Teil der überlebenswichtigen Voraussetzungen eines freiheitlichen Staates, die dieser selbst nicht garantieren kann.
In der Gesellschaft als ganzer nimmt die Bereitschaft, sich selbständig zu machen, schon lange ab. Junge Menschen, so belegen regelmäßige Studien, sehnen sich nach der Sicherheit und Bequemlichkeit des öffentlichen Dienstes. Derzeit sind 9,6 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland selbständig – damit sind wir in den OECD-Ländern eines der Schlusslichter. Im Vereinigten Königreich sind es mit 15,6 Prozent etwas mehr als der EU-Durchschnitt, in Italien 22,7 und in Südkorea 24,6. Und es sähe hierzulande noch düsterer aus, wenn wir uns nicht auf unsere Mitbewohner mit Migrationshintergrund verlassen könnten. Während sich die Zahl der Gründungen in den letzten 20 Jahren halbiert hat, ist die Quote der Selbständigen mit ausländischen Wurzeln in den letzten Jahren um rund 35 Prozent gestiegen. Jeder vierte Unternehmensgründung wird inzwischen von Menschen unternommen, die keine deutschen Staatsbürger sind oder nicht als solche geboren wurden.
Bescheidenheit und Freundlichkeit, Mut und Zufriedenheit
Was kennzeichnet diese Menschen? Zunächst einmal Bescheidenheit. Die allermeisten, von der Zahnärztin bis zum Kinderbuchautor, machen ihren Job einfach gerne. Sie haben Freude daran, anderen Menschen zu helfen, sie positiv zu überraschen, sie zu unterstützen, sie zu bereichern und mit ihnen zusammen zu sein. Deshalb nehmen sie die eigene Leistung oft gar nicht in all ihrer Bedeutung wahr, während sie die Arbeit ihrer Nachbarn, Freunde und Verwandten besonders wertschätzen. Obwohl sich zuhause noch die Buchhaltung stapelt, bleiben sie ein Bier länger sitzen und hören sich freundlich die Klage des alten Klassenkameraden an, dessen Urlaub nicht so genehmigt wurde, wie er sich das vorgestellt hatte. Die meisten Selbständigen haben viel mit anderen Menschen zu tun, empfinden diesen Kontakt als Bereicherung – und bereichern so das Leben von uns allen mit Freundlichkeit und Kreativität.
Darüber hinaus sind sie aber auch ungemein mutige und ausdauernde Menschen, die gar nicht so selten ein, zwei, drei Mal gescheitert sind, sich immer wieder aufgerappelt haben und weitergelaufen sind. Mit ihrem Mut tragen sie auch zu einer Atmosphäre der Experimentierfreude und Innovation bei, die wir in unserer Gesellschaft dringend benötigen. Während die Politik von der gesunden Lebensführung bis zu Wirtschaftskrisen mehr und mehr (und immer kostspieligere) Sicherheitsversprechen verramscht, setzen diese Menschen auf die Bereitschaft zum Risiko. Wie zentral dieses selbständige Unternehmertum für freie Gesellschaften ist, brachte vor sechzig Jahren Ludwig Erhard auf einem Parteitag der CDU auf den Punkt, als er forderte, es müsse „das Anliegen der Gesellschaftspolitik sein, nicht nur vorhandene selbständige Existenzen zu sichern, sondern vielleicht sogar mehr noch neue Selbständigkeiten zu ermöglichen, wenn sie sich nicht in einer nach rückwärts gerichteten Ideologie verfangen will. Gesellschaftspolitisch verdient das Selbständigwerden in jedweder Form sogar den Vorrang vor der bloßen Bewahrung.“
Und schließlich noch ein letztes Charakteristikum. Vielleicht das entscheidende – und eine Eigenschaft, die wir in unseren Kindern dringend bestärken sollten: Selbständige führen ein selbstbestimmtes Leben. Sie können auf ihre Leistungen mit echter (und dabei ja oft so bescheidener) Zufriedenheit blicken, weil sie die Früchte ihres Fleißes, ihrer Unverzagtheit und ihrer Kreativität sind. Nicht lärmender Stolz erfüllt sie dabei meist, sondern frohe Dankbarkeit. Man kann das schon realisieren, wenn man kleine Kinder beobachtet: Es gibt womöglich nichts in unserem Leben, das uns so glücklich machen kann, wie die Erfahrung, etwas aus eigenen Stücken heraus geschafft zu haben. Selbständigkeit ist eine zutiefst menschengemäße Lebensform.