Am Sonntag wird der 19. Bundestag gewählt. Zeit, sich einmal wieder mit der Frage zu beschäftigen, was die Aufgabe des Parlaments in einer Demokratie sein sollte. Denn es herrschen da mancherlei Missverständnisse. Wir wählen nicht die Regierung, sondern deren Kontrolleure Wenn die Bürger jetzt an die Urnen treten, wird nicht der Bundeskanzler oder irgendein anderer Spitzenkandidat gewählt. Es wird auch nicht die Regierung gewählt – genauso wenig wie eine Koalition oder auch nur eine Partei (auch wenn bedauerlicherweise der Wahl-O-Mat etwas anderes suggeriert). Gewählt werden Abgeordnete: zum einen Teil als Repräsentanten der Wahlkreise und zum anderen Teil als Kandidaten, die von den Parteien für die Landeslisten aufgestellt wurden.
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Am Sonntag wird der 19. Bundestag gewählt. Zeit, sich einmal wieder mit der Frage zu beschäftigen, was die Aufgabe des Parlaments in einer Demokratie sein sollte. Denn es herrschen da mancherlei Missverständnisse.
Wir wählen nicht die Regierung, sondern deren Kontrolleure
Wenn die Bürger jetzt an die Urnen treten, wird nicht der Bundeskanzler oder irgendein anderer Spitzenkandidat gewählt. Es wird auch nicht die Regierung gewählt – genauso wenig wie eine Koalition oder auch nur eine Partei (auch wenn bedauerlicherweise der Wahl-O-Mat etwas anderes suggeriert). Gewählt werden Abgeordnete: zum einen Teil als Repräsentanten der Wahlkreise und zum anderen Teil als Kandidaten, die von den Parteien für die Landeslisten aufgestellt wurden. Der Wahlkampf der Parteien lässt bisweilen einen etwas anderen Eindruck entstehen. Das ist freilich ein tief in der Geschichte der Bundesrepublik verwurzeltes Phänomen. Die meisten Wahlen in den ersten Jahren des neugegründeten Staates waren Adenauer-Wahlen. 1972 propagierte die SPD „Willy wählen“. Selbst die Grünen haben sich irgendwann dazu durchgerungen, Spitzenkandidaten zu benennen. All das hat dazu geführt, dass sich in der Bevölkerung ebenso wie in der politischen Klasse eine gravierende Veränderung im Verständnis der Aufgaben des Parlaments ergeben hat. Die Leute, die sich etwa in der Glorious Revolution oder während der kurzen deutschen Revolution von 1848 für die Rechte des Parlaments eingesetzt hatten, drehen sich im Grabe herum.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten durchaus gute Gründe dafür, an diese ehrwürdige Tradition anzuknüpfen. Schon der Erste Weltkrieg hatte mit einem unrühmlichen Kriegsermächtigungsgesetz begonnen, in dem viele Kompetenzen vom Reichstag auf die Regierung übertragen worden waren. Und erst recht saß vielen von ihnen die Erinnerung an den Beginn der NS-Diktatur im Nacken, die mit der Selbstentmachtung des Reichstags am 24. März 1933 ihren unheilvollen Anfang genommen hatte. Das Parlament sollte nicht wieder zum Jubelverein der Regierung werden. Seine Aufgabe sollte vielmehr sein, wie es schon 1659 die englischen Abgeordneten formulierten, „die Freiheit der Bürger gegen die Willkür der Regierung zu schützen“.
Gewissensentscheidungen sollten nicht die Ausnahme sein
Wenn wir unser Kreuzchen auf dem Wahlzettel machen, dann wählen wir, zumindest technisch gesehen, nicht eine Partei, sondern Frau Müller oder Herrn Meyer. Es ist gut möglich, dass Frau Müller auch antritt mit dem Versprechen, ihrerseits dann eine bestimmte Person zum Kanzler zu wählen. Aber sowohl in der Tradition des Parlamentarismus als auch im Wortlaut unseres Grundgesetzes ist klar: Aufgabe der Abgeordneten ist es nicht, die Wünsche eines Parteiführers zu erfüllen oder einer Regierung zu Diensten zu sein. Sie sind auch nicht Befehlsempfänger ihrer Wähler. Ihre vornehmste und wichtigste, ja unverzichtbare, Aufgabe ist die Kontrolle der Regierung. Sie müssen dem Finanzminister auf die Finger schauen, wenn er das Scheckbuch zückt; der Innenministerin, wenn sie die Überwachung ausdehnt; und dem Verkehrsminister, wenn unter seiner Verantwortung Geld im Nirwana verschwindet.
Hierzulande – wie in vielen anderen Demokratien auch – ist der Abgeordnete oft viel zu sehr eingeschränkt. Wie aberwitzig, dass es als besondere Ausnahme, fast als huldvoller Gunsterweis, dargestellt wird, wenn die Abstimmung einmal „freigegeben“ wird. Nicht der Fraktionszwang muss sich rechtfertigen, sondern die Gewissensentscheidung steht unter Druck. Es ist der erdrückenden Macht der Parteien geschuldet, dass sich kaum ein Abgeordneter traut, konsequent seinem Gewissen zu folgen, wie es das Grundgesetz vorsieht. Die Parteien bilden in gewisser Weise die Exekutive nach. Indem sie das einzige Umfeld sind, in dem man realistischerweise an ein Parlamentsmandat kommen kann, können sie die Trennung der Staatsgewalten und mithin die Kontrollfunktion des Parlaments unterminieren.
Wächter wählen, nicht Ja-Sager
Wie wählt man denn nun richtig? Wählen Sie nicht die Regierung, sondern wählen Sie diejenigen, denen Sie am ehesten zutrauen, die Kontrollfunktion gewissenhaft auszuüben. Insofern kann es durchaus Sinn ergeben, Abgeordnete zu wählen, die wahrscheinlich in der Opposition landen werden – denn hier können sie eventuell ungehinderter kontrollieren. Eine reine Protestwahl hingegen kann oft gerade den Mächtigen in die Hände spielen. Wer sich die Arbeitsweise linker und rechter Protestparteien in Bundestag und Landtagen genauer ansieht, kann sehen, dass sie ihre eigentliche Verantwortung zugunsten von Fundamentalopposition und Effekthascherei aufgeben. Richtig wählt man, indem man eine bewusste Entscheidung trifft. Indem man sich mit den Kandidatinnen und Kandidaten auf dem Wahlzettel und den Landeslisten auseinandersetzt.
Ludwig von Mises beobachtete schon vor neunzig Jahren in seinem Buch „Liberalismus“: „Jede einzelne Partei und Parteigruppe fühlt sich ausschließlich zur Vertretung bestimmter Sonderinteressen berufen, die sie ohne alle Rücksicht durchzusetzen bestrebt ist. Aus den Staatskassen soviel als möglich den ‚Eigenen‘ zukommen zu lassen, sie durch Schutzzölle, Einwanderungsverbote, durch ‚sozialpolitische‘ Gesetze, durch Vorrechte aller Art auf Kosten der anderen Teile der Gesellschaft zu begünstigen, ist das Um und Auf ihrer Politik.“ Wir brauchen auch heute in Deutschland dringend Frauen und Männer, die sich dem entgegenstellen. Wir brauchen Menschen, die ihrem Gewissen folgen. Wir brauchen Leute, die nicht selber Teil des Systems der Macht werden, sondern dieses System scharf beobachten und ihre Stimme erheben, um die Bürger vor Willkür und Machtmissbrauch zu schützen. Deshalb sind nämlich in den letzten Jahrhunderten immer wieder die Menschen in England, Frankreich, den USA, Polen und auch hierzulande auf die Straße gegangen und haben mitunter ihr Leben riskiert. Dieses Erbe sollten wir nicht verspielen, sondern ehren, indem wir eine verantwortliche Wahl treffen.